Lyrik:Winterliche Reise

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Esther Kinsky: Am kalten Hang. viagg' invernal. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016, 60 Seiten, 18 Euro. (Foto: a)

Esther Kinskys neuer Gedichtband "Am kalten Hang. viagg' interval" beschwört das Vergehen der Zeit und den Verlust des Gegenübers - und ist doch zugleich ein Buch über die Kraft und Schönheit der Sprache.

Von Nico Bleutge

Esther Kinskys ist eine Dichterin der Elemente. Ihr neuer Band beginnt mit einer märchenartigen Beschwörung des Windes. "Wir sind der wind wir sind der wind wir / sind der wind ich hab die stirn / gelehnt an einen alten traum die wand / von haus hof aprikosen / baum". So dicht sind hier die i-Laute gesetzt, dass man fast überliest, was für ein grundlegender Wechsel stattfindet: Das "wir" wandelt sich zum "ich". Eine kleine, unscheinbare Veränderung im Vers - und doch bestimmt sie die Atmosphäre des ganzen Buches.

"Am kalten Hang" ist durchweht von dunklen Liedern und "klagelauten". Selbst die Engel geben hier unter halb geschlossenen Augen nur einen "dünnen anhaltenden ton" von sich. Es ist ein Buch über das Vergehen der Zeit und über den Verlust des Gegenübers, ohne dass dieser Verlust - und darin liegt die Kunst Esther Kinskys - direkt ausgesprochen würde. Es ist aber auch ein Buch über die Kraft der Sprache, die so schöne Wörter wie "zukopfen", "schüttern" oder "flinkeln" kennt.

Kinsky nimmt die Klänge des Volkslieds auf und unterläuft sie

Der Untertitel lautet "viagg' invernal". Eine winterliche Reise also. Den eigentlichen Gedichten hat Esther Kinsky eine zweite Spur beigemischt. So wie die Landschaft ein "band" ist, das sich "des weges zieht", zieht sich diese Tonspur als Band am unteren Rand der Seiten entlang. "was hat / die landschaft zu sagen im vorüberzucken von schmutz und verwischten spuren", wird dort gefragt. Den Texten wiederum sind Illustrationen von Christian Thanhäuser beigesellt, kleine, abstrakte Gebilde, die von Variationen leben. So hat man auf jeder Seite ein Triptychon vor sich.

Von der "viagg' invernal" ist der Weg nicht weit zu Wilhelm Müllers "Winterreise". Immer wieder finden sich Querverweise auf Müllers Zyklus. Daneben zieht Esther Kinsky Linien zu Motiven aus dem Buch des Propheten Jeremia. Zum Motiv der Trauer und der Klage etwa oder zum Mandelbaum, dem ersten Baum, der nach dem Winter blüht. Doch auch zu Inger Christensens Langgedicht "alfabet" führt die Reise, das mit den Worten beginnt: "die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es". Hölderlin ist ebenso anwesend wie Büchners "Lenz".

Nicht von ungefähr heißt es einmal: "Keine rede von ruh im gebirg". Der Winter ist noch nicht vorbei. Trotzdem gibt es in dem Band auch eine Hoffnung auf Milde. Esther Kinsky legt diese paradoxe Idee einer Figur in den Mund: "Ohne ruh / such ich ruh sagt der wandrer." Das Schöne ist, dass der Gedanke nicht nur formuliert, sondern auch in die Form der Gedichte eingesenkt wird. Kinsky schreibt in meist gleichmäßig gebauten Sätzen und Satzteilen, die aber durch Zeilensprünge dauernd gebrochen werden. So entsteht ein Gefüge aus Ruhe und Unruhe, das die harmonischen Klänge des Volkslieds aufnimmt und unterläuft. Beim Lesen spürt man diese Spannung in jedem Vers, nimmt die Risse wahr und ist zugleich in Bewegung - "leicht / in schwingung versetzt von / möglichem klang".

© SZ vom 09.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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