Lyrik:Die Temperatur der Sprache

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Die Pluralität sichtbar machen: eine Gattung wird wiederentdeckt bei den 4. Frankfurter Lyriktagen. Die Dichtkunst erfreut sich enormer Beliebtheit - nicht nur dank des Preisträgers Jan Wagner.

Von Christoph Schröder

Wie ein Besessener hat der 2005 gestorbene Lyriker Thomas Kling Zeitungsmeldungen herausgerissen und gesammelt, alles archiviert, was ihm brauchbar, nützlich oder bemerkenswert schien zur Erzeugung seines Klangraums. Auf seinen Schreibtisch in der Raketenstation in Hombroich, wo er bis zu seinem Tod lebte, hatte Kling einen Ausriss aus der Wissenschaftsseite geklebt, Überschrift: "Anlage für Sprache im Affengehirn". Material ließ sich für einen wie ihn überall finden, selbst in den vermuteten Windungen einer asymmetrischen Hirnstruktur. Hans Jürgen Balmes, Lektor im S.-Fischer-Verlag und ein Freund des Lyrikers Kling, fasste zusammen, was Klings Denken und Schreiben auszeichnete: "Vielseitigkeit, ständige Richtungswechsel und ein Gespür für die Pluralität von Bedeutungen."

Die Pluralität auszustellen, das "unendliche Reservoir an Bildern, Rhythmen und Klängen" sichtbar zu machen, wie Festivalleiterin Sonja Vandenrath es ausdrückte - darum ging es zehn Tage lang bei den 4. Frankfurter Lyriktagen, einer vom Kulturamt der Stadt koordinierten, in Zusammenarbeit mit diversen kulturellen Institutionen durchgeführten Veranstaltung, die ganz bewusst ohne ein Motto daherkam.

"Du Totenreich du blöde Shopping Mall", schnarrte Marcel Beyer

Dass Gedichte sich zur Zeit, nicht zuletzt auch dank des Preises der Leipziger Buchmesse für Jan Wagner, einer erhöhten Aufmerksamkeit des Publikums sicher sein können, steht außer Frage; dass die beiden Veranstaltungen, auf denen Jan Wagner auftrat, bestens besucht sein würden, war zu erwarten. Dass jedoch auch die übrigen Veranstaltungen durchgehend auf hervorragende Zuschauerresonanz stießen, kam doch überraschend. Nicht aber für die Programmleiterin selbst: "Wir erleben", so sagt Sonja Vandenrath, "gerade einen sehr interessanten Paradigmenwechsel: Das Gedicht als komplexes Ineinander von Klang, Bild und Bedeutungsraum beginnt in die Breite zu wirken. Fast könnte man sagen, dass eine Gattung wiederentdeckt wird."

Zum furiosen Auftakt hatten sich der Schriftsteller Marcel Beyer und das Frankfurter Ensemble Modern zu einer nicht unriskanten Gemeinschaftsarbeit zusammengefunden, einem Lesungskonzert, für das Beyer eigene Gedichte aus dem Band "Graphit", aber auch Texte seiner eigenen Referenzgrößen zusammengestellt hatte: Ezra Pound, Georg Trakl, Gottfried Benn. Dazu spielte das Ensemble Modern unter der Leitung von Hermann Kretzschmar Werke aus dem 20. und 21. Jahrhundert - so schnarrte Beyers markante Stimme über den Klängen von Marion Browns "Sweet Earth Flying": "Du Totenreich du blöde/Shopping Mall, wo alles Tag/und Nacht bedunstet wird, alles mit California Girls beschallt". In diesen Momenten eröffnete sich tatsächlich eine dritte Ebene zwischen Hören und Verstehen; ein konkreter Appell an das Körperliche und an die Assoziationsbereitschaft.

Wie hängt Produktion von Literatur mit der Körperlichkeit zusammen?

Sprache, so sagte Ilma Rakusa an einem der folgenden Abende, habe eine Temperatur. Wenn Gedichte in der Lage sind, Grenzen jeglicher Art zu verwischen, dann sei es ihr Anliegen, die Temperatur des Ungarischen beispielsweise in das Deutsche hinüberzuretten. Rakusa, in der Slowakei geborene und in der Schweiz aufgewachsene Tochter eines Slowenen und einer Ungarin, versuchte sich gemeinsam mit dem Slowenen Ales Steger und dem Mazedonier Nikola Madzirov an einer Ästhetik des Unbehausten. Zunehmend, so Steger, werde die Frage, ob ein Autor einsprachig oder mehrsprachig aufgewachsen sei, zu einem Distinktionsmerkmal. In einer Welt der Diversifizierungen fühlt gerade Steger sich von der rasant wachsenden Zahl von transitorischen Nichtorten, Bahnhöfen, Flughäfen, Autobahnkreuzen, zu einer ästhetischen Reaktion herausgefordert.

In den imposanten großen Saal des neoklassizistischen Literaturhauses hatte man kurzerhand den Lastenaufzug des Hauses hinaufgefahren. Darin saß Carolin Callies, deren Debütband "fünf sinne & nur ein besteckkasten" in diesem Frühjahr erschienen ist, und las ihre Gedichte, die auf eine radikale Ästhetik der körperlichen Entblößung, des Ekels setzen. Marcus Roloff, der Callies im Aufzug folgte, entwirft dagegen feine Kartografien in Gedichtform, die sich wiederum in Werken der Bildenden Kunst spiegeln. Grenzüberschreitungen, auch hier. Und auch die vom Poststrukturalismus und der Genderforschung bereits für obsolet erklärte Frage nach einem spezifisch weiblichen Schreiben wurde in einem Podiumsgespräch zwischen Mara-Daria Cojocaru, Ulrike Draesner und Ulla Hahn noch einmal aufgeworfen. "Wie hängt Produktion von Literatur mit der eigenen Körperlichkeit zusammen?", fragte Draesner, und: "Gibt es etwas, was nur Frauen über Frauen sagen und schreiben können?"

Auf dem Podium der jungen Lyrikvermittler wiederum erhob die seit Jahren auf bemerkenswerte Weise aktive "kookbooks"-Verlegerin Daniela Seel die Forderung, dass auch für das Unfertige ein Raum sein müsse. Ein Raum, der zumindest temporär in Frankfurt zur Verfügung gestellt wurde.

© SZ vom 22.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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