Lyrik:Der Schnellste ist der Modernste

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Die Poesie des Sprintens und den Rhythmus der Dampfmaschine erproben Martín Gambarotta und Sergio Raimondi, zwei Dichter aus Argentinien. Ihre Lyrik setzt einen Kontrapunkt gegen alles Ungefähre: Präzision.

Von Tobias Lehmkuhl

Die Olympischen Spiele in Seoul 1988 sind vor allem wegen Ben Johnsons gedoptem 100-Meter-Weltrekord und der anschließenden Entlarvung des Sprinters in Erinnerung. Die Chiffre "Seoul 88" taucht in einigen Gedichten des Argentiniers Martín Gambarotta auf, die unter dem Titel "Pseudo" jetzt auf Deutsch erschienen sind. Von Ben Johnson ist darin nicht explizit die Rede, auch nicht von seinen 9,79 Sekunden. Aber dafür von "13/ sek. Weisheit".

Die Faszination des 1968 in Buenos Aires geborenen Martín Gambarotta für Schnelligkeit und für kurze Strecken ist also offensichtlich - die meisten der 166 Gedichte des Bandes sind gleichfalls sehr kurz, eines umfasst gar nur ein einziges Wort ("Botellitas"/ "Fläschchen" - vielleicht handelt es dabei sich um Behälter für Urinproben?). Gedopter Lyrik ist zwar noch niemand auf die Schliche gekommen, aber dass auch Dichter unter einem ähnlichen Erfolgsdruck stehen wie Sprinter, davon zeugen diese Verse: "Er denkt/ was ein Läufer in Startposition denkt:/ Der Schnellste ist der Modernste."

Im literarischen Wettstreit fehlt freilich die alles entscheidende Stoppuhr. Es lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, wer der Schnellste, wer der Modernste ist. Die weitreichende Erkenntnisunsicherheit betrifft zudem nicht nur den Kritiker, sie betrifft den Dichter selbst. Ständig ist er mit dem Umstand konfrontiert, das sich vermeintliche Gewissheiten als haltlos erweisen: "Man weiß ja/ dass eine Sache/ nicht die andere aufhebt/ aber in diesem Fall/ hob eine Sache/ die andere auf."

Auch die Ausbeutung des argentinischen Seehechts ist ein Thema dieser Lyrik

Wahrnehmungspartikel, Erinnerungsfetzen, Gedankensplitter, Paradoxien: Martín Gambarotta gelingt in "Pseudo" das Kunststück, aus sehr heterogenem Material kohärente und höchst konzise Gebilde zu formen. Von Blitzen durchzuckt und von Ziegen bevölkert, tauchen hier und da nicht zuletzt Spuren argentinischer Zeitgeschichte in den Gedichten auf. Das ist auch der Fall in der "Zivilpoesie" seines ebenfalls 1968 geborenen Landsmanns Sergio Raimondi. Um ein Licht auf die durchkapitalisierte Gegenwart zu werfen, geht Raimondi in seinen Gedichten allerdings häufig ein Stück weit zurück in die Historie, in die Zeit der Industrialisierung Argentiniens um 1900. Von Kraftwerken ist da die Rede, von Anlagen zur Umwandlung von Kohlenwasserstoffen, aber auch von der Metrik der Dichtung, die "so funktioniert, wie der Regler, den in jener Zeit Watt/ in die Dampfmaschine einbaute, um eine gleichmäßige/ Geschwindigkeit und all die Automatisierungen/ zu ermöglichen".

Doch wie die Dampfmaschine scheint auch die traditionelle Metrik überholt. In freien Versen allerdings gelingt es Raimondi durchaus, technische Prozesse in eine lesbare Form zu bringen, etwa wenn er in dem Gedicht "Was ist das Meer" listenartig zusammenfasst, welche globalen Wirtschaftsfaktoren bei der Ausbeutung des argentinischen Seehechts zu berücksichtigen sind: "Gefälschte Kreditbriefe, Laternen und asiatische Flaggen,/ Maul- und Klauenseuche in britischen Schlachthöfen, Hoki-Fisch,/ Rückwurf von Tonnen toter Kurzflossenkalmare an die Tiefsee,/ Infrastruktur für Lagerung und Kühlung, Fanggrund, sowas halt." Das lapidare "sowas halt" ("eso") steht wie ein glatter Strich unter der Rechnung am Ende des Gedichts. Dem Übersetzer Timo Berger ist es dabei gelungen, das technische Vokabular - manchmal scheint Raimondi mit dem Sound von Bedienungsanleitungen zu spielen - adäquat ins Deutsche zu übertragen.

Wie misst die Poesie "die Zeit, die es dauert, bis / eine 500 g Teedose aufgebraucht ist"?

Noch mehr ist Berger zu loben für seine Übersetzung von Gambarottas "Pseudo", das bei aller Kürze und Knappheit immer wieder auch mit Reimen und Assonanzen arbeitet. So fügt der Übersetzer zuweilen sogar zusätzliche Worte ein, um Klang und Rhythmus zu bewahren, ein wagemutiges, aber erfolgreiches Verfahren: "Pseudo behauptet munter: Das Salz buttert mich ständig unter." ("Pseudo dijo: El sal me tiene de hijo.")

Wer Pseudo ist, lässt sich naturgemäß nicht genau sagen. Auch, wer dieser Arnaut sein soll, der mehrfach auftaucht, bleibt rätselhaft. Ein Freund des Autors? Ein Albaner? Ben Johnson gar? Wohl kaum. Arnaut ist Arnaut. Gambarotta hat keine Interesse daran, Dinge zu verrätseln. Er möchte die Welt vielmehr so präzise wie möglich beschreiben. So präzise, wie es eben nur die Poesie kann: "Die Zeit, die es dauert, bis/ eine 500 g Teedose aufgebraucht ist./ Exakt diese Zeit." Die Poesie, sie verfügt über ihre ganz eigene Stoppuhr.

Martín Gambarotta: Pseudo. Aus dem Spanischen von Timo Berger. Verlag Brueterich Press, Berlin 2017. 176 Seiten, 20 Euro.

Sergio Raimondi: Zivilpoesie. Aus dem Spanischen von Timo Berger. Verlag Reinicke und Voß, Leipzig 2017. 160 Seiten, 15 Euro.

© SZ vom 28.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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