Lyrik:Der Mensch als Gnu

ãAnthropozänÒ-Ausstellung im Deutschen Museum

Poesie im Anthropozän: Karin Fellner (links) ist Herausgeberin einer Anthologie, die Lyrikerin Anja Bayer hat dazu Texte beigetragen.

(Foto: Lukas Barth)

Gedichte zum "Anthropozän" im Deutschen Museum

Von Thomas Jordan

Im Jahr 2000 konnte man Zeuge einer Art zweiten Urknalls in der Wissenschaftswelt werden: Ein neues Erdzeitalter, das Anthropozän, wurde geboren. Nach all den massiven Eingriffen in Natur, Klima und Artenvielfalt sei es überfällig, die unwiderruflichen Veränderungen in der Erdrinde auch nach ihrem Verursacher, dem Menschen zu benennen, forderte der Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen. Nun hat die Kunst, und insbesondere die ebenso sensible wie flüchtige Lyrik, schon immer ein feines Sensorium für Veränderungen in der Umwelt des Menschen besessen: Joseph von Eichendorff, der Romantiker in preußischen Staatsdiensten, schrieb seine sehnsüchtigen Hymnen auf den deutschen Wald in einer Zeit, in der die bis dahin größten Waldrodungen in ganz Europa stattfanden. Die Poesie war dabei nicht nur passive Protokollantin des Geschehens, sondern eröffnete auch einen Freiraum, in dem kritische Perspektiven verfügbar wurden.

Wer es heute auf sich nimmt, dem Erdzeitalter in Gedichtform zu begegnen, hat es mit einer Mammutaufgabe zu tun: Nicht allein, dass das Anthropozän als neue Erd-Epoche in der Geowissenschaft hoch umstritten ist. Längst ist aus dem Fachterminus auch ein kulturelles Konzept geworden, bei dem es "ums Ganze geht", wie der Technikhistoriker Helmuth Trischler in einer in Kürze erscheinenden Anthologie mit dem Titel "Lyrik im Anthropozän" schreibt. Im neuen, maßgeblich vom Menschen beeinflussten Erdzeitalter verschränken sich wissenschaftliche und ethische Fragen mit Vorschlägen zum künftigen Wirtschaften, Arbeiten und Zusammenleben.

Auf dem Gebiet der Lyrik bedeutet das eine Wiederkehr alter Fragen in neuer Vehemenz: Welche Haltung soll ein Dichter beim Schreiben einnehmen? Wie politisch sollte Lyrik sein? Das Anthropozän, es sorgt auch hier für hochkomplexe, mitunter schwer zu beantwortende Fragen. Das merkt man im Gespräch mit Anja Bayer, der Herausgeberin der Gedichtsammlung, und der Münchner Lyrikerin Karin Fellner, die dazu einen Essay und Gedichte beigetragen hat. Gesichert kann man dazu immerhin dies sagen: In 213 Gedichten, unterteilt in elf Sektionen, greift der Band mitten hinein in Fragen nach dem Zusammenhang von Konsumverhalten, tiefer liegenden Denkmustern und den Spuren, die sie in der Erdkruste hinterlassen.

Stilistisch fallen dabei eine Häufung langer Prosagedichte und Spiele mit der poetischen Form auf, wie sie für die visuelle Poesie typisch sind. Inhaltlich lebt der Band von dem reizvollen Aufeinandertreffen flüchtig-flexibler menschlicher Sprache und der vormals harten, seit der Ausrufung des Anthropozäns in der öffentlichen Diskussion immer weicher gewordenen Erdkruste. Mensch, Tier und unbelebte Natur rücken dabei vor dem Hintergrund existenzieller Bedrohungsszenarien wieder näher zusammen, das buchstabieren beispielsweise Gedichte von Autoren wie Franz Dodler oder Karin Fellner aus. Fellners "Eine Zeitfalte weiter", steuert dazu die Verse bei: "ein Schock Ameisen auf/der verblichenen Schulter /eines Gnus - das bist du." Der Mensch als Gnu.

Überhaupt: Will man eine inhaltliche Tendenz aus der Anthologiensammlung herauslesen, dann ist es diese: Entdifferenzierung, Auflösung der alten rationalistischen Schranken im Denken und Handeln ist das Gebot der Stunde. Asmus Trautsch fängt das typisch anthropozänische Zusammenspiel von Natur, Kultur, Erd- und Menschheitsgeschichte in einem prägnanten Sprachgebilde für Fossilien ein: der "rötlichen Plastik der Zeit". In der Sektion "objektiviert, klassifiziert, archiviert" finden sich dann wissenschaftskritische Gedichte prominenter Autoren. Da höhnen Monika Rincks Honigprotokolle "Kraft eines Rasters", und Jan Wagner ermahnt den Leser sanft aber nachdrücklich, "dieser tote sperling . . . wird noch durch einen leeren himmel fliegen".

In der Frage, welche Rolle die Lyrik im Zeitalter des Anthropozäns überhaupt spielen kann, plädiert Karin Fellner am Ende in ihrem Essay "Stacheln sprechen" dafür, die Subjekt-Objekt-Spaltung der Welt in der dichterischen Sprache zu überwinden und mehr Widersprüche zuzulassen. Es sind dies keine ganz neuen Rezepte, mit denen die Münchnerin die Gedichtsammlung beschließt. In der Geistesgeschichte tauchen sie periodisch auf, wenn die Frage nach dem Ganzen derart dringlich wird, wie das zur Zeit der Fall ist. Wer genau hineinhört in die vielstimmige lyrische Sehnsucht nach Einheit und Ganzheit in der Anthologie "Lyrik im Anthropozän", kann daher auch noch das Echo von Joseph von Eichendorffs Waldeshymnen vernehmen.

All dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän, Sonntag, 24. Juli, 11.30 bis 13 Uhr, Deutsches Museum, Museumsinsel 1

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