Lou Reed in Frankfurt:Neues vom Todeszwerg

Hey c´mon! Warum denn nicht mal supereuphorisch dem Winseln des Verflossenen lauschen?! Der Mann und Meister hat schließlich pfundweise eigenes Fleich verhökert - und jetzt wickelt er die ganze Alte Oper um den Finger. Von Oliver Fuchs

In so eine Begegnung geht man nicht unvorbereitet. Das wäre respektlos. Man sitzt also im Zug und gräbt sich durch zirka 120 Kubikmeter Archivmaterial, nimmt hier eine Tiefenbohrung vor, checkt dort ein paar Fakten, wühlt, gräbt, checkt, entdeckt.

Lou Reed in Frankfurt: Wenn dich einer fragt, antworte: Er war allright.

Wenn dich einer fragt, antworte: Er war allright.

(Foto: Foto: dpa)

Also, wie war das schnell noch mal: Hat Lou Reed wirklich seine Freundin und spätere Ehefrau Sylvia Morales regelmäßig verprügelt, was lief mit Laurie Anderson, hat er wirklich, Stichwort Berlin, Stichwort Heroin, mit Bowie und Iggy Pop das Spritzbesteck geteilt, war Nico wirklich sauer auf ihn, weil er von seinen beträchtlichen Drogenvorräten nichts abgeben wollte, und, wo wir gerade an Hanau vorbeifahren: Wie war das eigentlich damals in Offenbach, wurde er da nicht im Polizeiwagen abtransportiert, nachdem Zuhörer die Halle verwüstet hatten, denen sein "Gesang zu brav" war, und ging der Vorfall nicht als "Offenbacher Schlägerei" (Stern) in die Geschichtsschreibung ein?

Halt, stopp. Das interessiert doch niemanden. Noch drei Stunden bis zum Konzert - und schon hat man sich heillos in Details verzettelt, schon taucht man wieder viel zu tief ein in diesen kaputten Kosmos. Mit anderen Worten: Man geht Lou Reed, dem Rock'n'Roll-Tier und Rattenfänger, auf den Leim. Denn genau das will er ja, der große Musiker und noch größere Manipulator. Man soll sich für jeden Mist, den er macht, interessieren. Man soll ihm verfallen. Den Gefallen tun wir ihm nicht, jedenfalls nicht jetzt, nicht um 17.05 Uhr.

Neues vom Todeszwerg

Im Abteil sitzen auch zwei Studenten und unterhalten sich angeregt über neue Rockbands. The Kills, The Killers, The Thrills, The Thrillers oder so ähnlich - man kommt da ja nicht mehr mit, es gibt mittlerweile so viele Bands mit bestimmtem Artikel, die irgendwie nach den achtziger Jahren klingen und angestrengt cool tun. Der eine Student trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "Kein Platz für weitere Kurzmitteilungen". Bei dem anderen steht vorne "Pornostar" drauf.

Hallo, ihr Studenten, fahrt ihr auch zu Lou Reed? - Nein. Das sollten sie vielleicht besser mal. Denn natürlich ist Lou Reed einerseits ein Klassiker mit wohl abgehangenem, längst proseminarfähigem Œuvre. Andererseits führte er The Velvet Underground an, eine Band, die in den sechziger Jahren kaum verstanden wurde, weil alle Mitglieder auf Speed waren und der Rest der Welt auf LSD (Detailwissen: Reed nahm angeblich Octagell, das härteste Speed im Handel), und die dann plötzlich in den achtziger Jahren wiederentdeckt wurden, und - seltsam, aber so steht es geschrieben - die prägendste Band der Achtziger waren, obwohl sie 1970 auseinandergingen, im Streit, klar, wenn einer wie Reed der Boss ist.

Es klingt vielleicht verdreht, aber müsste nach den Gesetzen der Logik nun nicht er der Mann der Stunde sein, unser Achtziger-Retro-Onkel, jetzt da alle auf Achtziger machen? Warten wir's ab.

Pünktlich um 20 Uhr betritt er die Bühne der Alten Oper in Frankfurt am Main und spielt los, ohne "Guten Abend" oder wenigstens "Hey" zu sagen. Er trägt ein nichtssagendes bordeauxrotes T-Shirt, bewegt sich während der ersten halben Stunde nicht von der Stelle, und als er dann doch mal drei Zentimeter läuft, tut er es mit der bollerigen Breitbeinigkeit, die alternden Pornostars zu eigen ist.

Es geht los mit einem breiigen "Adventurer", es folgt "The Proposition", auch irgendwie diffus.

Man spitzt erst die Ohren, als unvermittelt "White Light/White Heat" losbricht, eines der schönsten und klarsten Velvet-Underground-Stücke. Das ist Krach, aber kompakt, mit Sinn und Verstand, formstreng. Und sofort kapiert man, warum diese Band so wichtig war und ist. Sie hat der Rockmusik alles Schwitzige, Intime, Hippiehafte ausgetrieben, und an die Stelle von Gefühlsgewaber kühle Konstruktionen gestellt.

Wer "White Light/White Heat" hört (falls es jemanden interessiert: David Bowies Lieblingslied), wird all den Thrillers und Killers der Gegenwart wohl nie viel abgewinnen. Das Original ist den Epigonen turmhoch überlegen, um Lichtjahre voraus.

Lou Reed spielt an diesem Abend vorwiegend Lieder aus der zweiten und dritten Reihe seines Werks, Unscheinbares, Überhörtes. Er kann es sich leisten. Das weiß er. Nach drei, vier Stücken hat er sein Publikum herumgekriegt. Durch die Alte Oper tosen Begeisterungsstürme.

Ob man will oder nicht: Man fällt auf ihn rein. Man verfällt ihm. Er singt "Why do you talk", diskret lebensmüde, und "Slip away", ein rabenschwarzes Requiem, und "Talking Book", ein Kinderlied, mit Pling-Plong-Harmonien, und doch: tieftraurig. Es ist alles ganz einfach. Und wunderbar klar. Der alte Reed erinnert ein wenig an den alten Eastwood. Eine kleine Geste genügt, ein Zucken mit dem Mundwinkel, ein Streicheln über die Gitarre. Mehr braucht es nicht.

Und so bewegt er sich durch diesen Abend mit der Gelassenheit eines Mannes, der machen kann, was er will. Er kann gute Alben aufnehmen und mittelgute, er kann schlechte Konzerte geben und granatenschlechte, er kann sich, wenn er Lust hat, mit Vaclav Havel zum Abendessen treffen und nebenbei, so will es eine Legende, das Sowjetreich zum Einsturz bringen. Er kann im Hamburger Thalia-Theater den inneren Edgar Allan Poe herauslassen und Willem Dafoe antanzen lassen und Steve Buscemi und daraus eine Revue fabrizieren, die so prätenziös ist, dass sie schon wieder saukomisch ist, er kann ein nur mit Altersdemenz entschuldbares Heavy-Metal-Opus wie "Metal Machine Music" herausbringen - es ist okay.

Es ist, um es mit seiner eigenen Lieblingsvokabel zu sagen: allright. Wer kann ihm noch irgendwas? Er hat mit den schärfsten Frauen geschlafen (und den schärfsten Männern und Transsexuellen), er hat jede Sünde begangen, er war ganz unten und ganz oben, er ist mehrfach gestorben und wiederauferstanden. I met myself in a dream / And I just wanted to tell ya, everything was allright ...

Nur einmal an diesem Abend klatschen die Zuhörer bloß euphorisch und nicht super-euphorisch. Da bellt er sie an und befiehlt: "Hey c'mon!" In diesem Moment erinnert man sich an die unsterblichen Zeilen, die der Kritiker Lester Bangs einst über ihn geschrieben hat: "Lou Reed ist ein völlig verdorbener Perverser und bemitleidenswerter Todeszwerg. Außerdem ist er ein Lügner, ein vergeudetes Talent, ein Künstler auf dauernder Suche und ein Höker, der pfundweise sein eigenes Fleisch verkauft."

Doch insgesamt muss man sagen: Der Todeszwerg hat ein sehr, sehr gutes Konzert gegeben. Er war allright.

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