Longlist zum Deutschen Buchpreis:Ein Stückchen Acker in Ghana

Am Montag erscheint Jenny Erpenbecks Roman "Gehen, ging, gegangen" - mit einer literarischen Rettung des Flüchtlingscamps am Oranienplatz in Berlin.

Von Jörg Magenau

Brave Literatur macht genau das, was die Kritik von ihr verlangt. Sie packt aktuelle Themen an, die sogenannten heißen Eisen, um damit gewissermaßen aufs saisonale Debattenkarussell aufzuspringen. Das Thema der Saison ist sicherlich die Flüchtlingsproblematik, und wenn dazu nun auch schon die zugehörigen Romane in die Buchhandlungen gelangen, ist ein gewisses Misstrauen angebracht. Jenny Erpenbeck hat mit "Gehen, ging, gegangen", den Roman der Saison geschrieben, auch wenn Merle Kröger mit dem Mittelmeer-Flüchtlings-Thriller "Havarie" noch ein bisschen schneller gewesen ist. Erpenbeck ist dafür näher dran an der deutschen Wirklichkeit, an den Flüchtlingsheimen, dem Misstrauen, das den Flüchtlingen entgegenschlägt und all den Auseinandersetzungen um Bleiberecht und Arbeitsmöglichkeiten. Und wer wissen will, wie es Flüchtlingen hierzulande ergehen kann, dem sei dieses Buch als Sachkunde durchaus empfohlen.

Richard scheut sich, schwimmen zu gehen: Im See vor seinem Haus ist ein Mann ertrunken

Nur: Wie macht man daraus einen Roman? Erpenbeck erfindet sich eine Figur, die als Stellvertreter funktioniert und ihre eigenen Recherchen "erlebt". Dieser Richard ist emeritierter Altphilologe mit DDR-Biografie, seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben, die langjährige Geliebte hat ihn betrogen und verlassen, im See vor seinem Haus ist ein Mann ertrunken, dessen Leiche unentdeckt blieb, so dass Richard sich in diesem Sommer scheut, schwimmen zu gehen. Bleiben also viel freie Zeit und das Bedürfnis, seinem Leben einen neuen Sinn zu geben.

Aus dieser Gefühlslage entsteht seine Neugierde gegenüber den Flüchtlingen, die in Berlin-Kreuzberg auf dem Oranienplatz campieren und für ihr Bleiben demonstrieren. Er beobachtet, wie das Camp nach einem Jahr und endlosem politischen Hin und Her geräumt wird und besucht die Männer - ja, alles Männer - dann in dem Heim am Ostrand der Stadt, in dem sie vorübergehend untergebracht werden. Er gibt ihnen Deutschunterricht, freundet sich mit einzelnen an, lädt einen jungen Mann zu sich nach Hause ein, um ihm das Klavierspielen zu ermöglichen, kauft einem anderen für seine Familie in Ghana ein Stückchen Acker, erlebt, wie sie alle weiter verschoben werden, erst nach Spandau und dann zurück nach Italien oder an die Orte, an denen sie sich jeweils zuerst gemeldet hatten.

Eingestreut sind die Geschichten, die er sich erzählen lässt und mit dem Tonband aufzeichnet, Geschichten von Massakern und Kriegen in den Heimatländern, vom Verlust der Familien, von Toten und von Armut, Geschichten auch vom Sterben und Kämpfen auf den Booten im Mittelmeer. Es handelt sich um eine Art Umkehrung der "Flüchtlingsgespräche" von Bertolt Brecht, bei dem es ja die aus Deutschland Vertriebenen waren, die sich im Exil begegneten. Hier sind es die, die nach Deutschland geflohen sind, die aber keine Gegenwart und keine Zukunft finden können.

Flüchtlingslager in Berlin

"Am Abend heißt es [...], es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis für die unhaltbare Lage der Flüchtlinge am Oranienplatz eine Lösung gefunden sei."

(Foto: dpa)

Richard - oder vielmehr Jenny Erpenbeck auf dem Umweg über ihre Figur - macht aus den Flüchtlingen geradezu mythische Figuren, die "Olympier" oder "Blitzeschleuderer" oder "Tristan" genannt werden. Richard nimmt auch die mythische Vorgeschichte Nordafrikas als Geburtsort der griechischen Götter in den Blick, rückt das aktuelle Geschehen in einen großen historischen Horizont und fragt: "In welchen Zeiträumen muss man denken, wenn man wissen will, was Fortschritt genannt werden kann?" Überhöhung und eine gewisse Verklärung der Flüchtlinge dienen als literarische Strategie, die der politischen Ignoranz und dem vorherrschenden Chauvinismus hierzulande entgegengehalten werden.

Das ist in jedem einzelnen der berichteten Fälle durchaus erschütternd, hat aber romantechnisch den Nachteil, dass die Geschichten sich bald vermischen und man bei all den Figuren den Überblick verliert und vergisst, wer denn nun was erlebt hat. Das liegt daran, dass sie jenseits ihrer Fluchtgeschichten keine tiefere Individualität gewinnen. Es entsteht zwar ein großes Schreckenspanorama, doch die konkreten politischen Hintergründe in den jeweiligen Heimatländern bleiben diffus. Die didaktische Absicht aber ist klar: der anonymen Menge der Flüchtlinge persönliche Gesichter und Geschichten zu verleihen, um so die Empathie zu steigern. Das mag auch gelingen; doch der Roman ächzt und stöhnt unter so viel gutem Willen und Vorsätzlichkeit.

Hätte nicht eine Reportage ohne ein fiktives Mäntelchen mehr erreichen können?

"Gehen, ging, gegangen" - der Titel zitiert das mühsame Einüben unregelmäßiger Verben - krankt auch daran, dass der harte gesellschaftliche Konflikt um die Flüchtlinge ausgeblendet bleibt. Die politische Frage, wie Zuwanderung denn nun zu regeln wäre und was das in der Praxis bedeutet, gerät gar nicht erst nicht in den Blick. Wären denn grenzenlose Offenheit und Bleiberecht für alle tatsächlich eine realistische Option? Gesehen wird nur die "bürokratische Geometrie" in all ihrer Gefühllosigkeit. Auf der anderen Seite gibt es die armen Asylbewerber als deren Opfer.

Und neben den wenigen guten Deutschen, die sich kümmern, bleibt der große Rest derer, die das nicht tun, und die aus dieser Perspektive heraus nur dumpf oder rassistisch sein können. Das ist relativ schlicht, auch wenn Richard die Sympathisanten am Oranienplatz durchaus skeptisch sieht, wenn sie sich beispielsweise für die gleichgeschlechtliche Ehe in den afrikanischen Herkunftsländern einsetzen und damit doch vor allem ihren eigenen Interessen folgen.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Rom Gehen, ging, gegangen stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Tatsächlich fragt man sich, ob nicht eine Reportage sehr viel mehr leisten könnte, ohne ein fiktives Mäntelchen um die realen Ereignisse zu legen und ohne die nicht wirklich überzeugenden Rahmengeschichten: der Tote im See (der dann irgendwann auch keine Rolle mehr spielt), der alte Mann in seinem Haus, die Ost-Vergangenheit. Die Sprachsensibilität, die Richard als Altphilologe auszeichnet, hätte man auch in einer Reportage retten können, Empfindlichkeiten gegenüber Worten wie "Fiktionsbescheinigung" oder "Ostzeiten" als merkwürdige Zusammensetzung von räumlichen und zeitlichen Bestimmungen. Überhaupt interessiert Richard sich sehr dafür, was Zeit eigentlich ist - denn seine eigene Lebenszeit wird knapp, und die Flüchtlinge empfindet er als natürliche Leidensgenossen, weil sie wie er selbst "aus der Zeit herausgefallen" sind.

Das Beste an diesem Buch sind die beiläufigen Erkenntnisse und Sentenzen, Sätze, die über ihr eigentliches Thema hinausführen, sich mit Alter, Zeit und Vergänglichkeit beschäftigen, und wo man zu ahnen beginnt, wie der Roman sein könnte, wenn er nicht an der kurzen Leine des guten Willens gehalten werden müsste. Wenn Richard in der Schlussszene von einer Abtreibung seiner Frau berichtet und dazu sagt: "Damals ist mir klar geworden, dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte", ahnt man, was der gute Wille an Konflikten und Schmerzen verbirgt. Doch davon lässt Erpenbeck zu wenig sehen in diesem sehr rechtschaffenen, braven Roman.

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Roman. Knaus Verlag, München 2015. 350 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.

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