Longlist zum Buchpreis:Das kalte, kalte Wechselgeld

Über den WInter

Rolf Lappert: Über den Winter. Roman. Carl Hanser Verlag, (München) 2015, 383 Seiten, 22,90 Euro. E-Book 16,99 Euro.

Rolf Lapperts Roman "Über den Winter" lotst einen Aktionskünstler erst in die Tristesse und dann ans Ufer der Sentimentalität.

Von Burkhard Müller

Lennard Salm hat es satt. Er mag nicht mehr Künstler sein, mag nicht mehr Bücher verbrennen, um aus deren Asche sodann das Wort "Vergessen" in die Landschaft zu schreiben und darauf an derselben Stelle das Wort "Erinnern" aus Blumen sprießen zu lassen. Seit er bei einem seiner Streifzüge einen toten Säugling am Strand des Mittelmeers gefunden hat, mag er auch nicht mehr aus dem Strandgut ertrunkener Bootsflüchtlinge seine Installationen basteln. Solche Aktionen, das wird ihm immer klarer, bedeuten nicht Einsatz für die Sache der Elenden, sondern schmarotzen an ihrem Elend noch.

Aber was will er dann, jetzt, mit fünfzig Jahren und vom unwillkürlichen Zynismus seines Jobs ermüdet? Das weiß er auch nicht so genau. Hier lässt Rolf Lappert sein gerade erschienenes Buch "Über den Winter", das auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis steht, vom Künstler- zum Familienroman einschwenken. Salm kehrt aus der weiten Welt heim nach Hamburg, als er die Nachricht vom Tod seiner Schwester Helene erhält. Lappert ist nicht der erste Romanautor, der ein Begräbnis, zu dem sich alle Angehörigen versammeln müssen, ob sie wollen oder nicht, zum willkommenen Anlass nimmt, die Familiengeschichte aufzurollen, drei Generationen voller Unglück, Untreue, Depression und Tyrannei. Salms Großmutter schon hatte durch ihre beharrliche Passivität ihren Sohn, Salms Vater, gezwungen, seinen Traumberuf eines Vulkanologen aufzugeben und sein Leben der häuslichen Pflege zu widmen.

In Nadjas Küche thront ein Stoffschwein mit Sonnenbrille

Als der Vater seinerseits heiratet, gerät er an die "norwegische Königin", eine Diplomatentochter, die sich durch ihr Dasein als vierfache Mutter um ihr Lebensglück betrogen sieht und es den Kindern durch Strenge heimzahlt. Längst haben sich die beiden, Vater und Mutter, getrennt. Salms Vater, sehr gebrechlich nunmehr, lebt mit seiner polnischen Pflegerin Bascha, deren Herz aus Gold sich durch ihre Kochkünste und ihr anrührend mangelhaftes Deutsch erweist. Salms Bruder Paul hat sich eine stille Spießerbiografie erwählt, während seine Schwester Bille der schräge Vogel mit Neigung zum Theater geblieben ist, der sie immer war; und immer noch ist sie bis zur Aufdringlichkeit Salms verschworene Vertraute.

Das verkommene Haus, in dem der Vater lebt, beherbergt weitere marginale Existenzen, den hasenschartigen menschenscheuen Sohn des Hausbesitzers, Armin, ebenso wie die alleinerziehende Nadja, die den Tod der Schwiegermutter verschweigt, um nicht den Mietvertrag zu verlieren. Ihr ästhetisches Urteil ist fragwürdig (sie trägt abscheuliche Klamotten, und in der Küche thront ein Stoffschwein mit Sonnenbrille), aber zwischen ihr und Salm scheinen sich zarte Bande anzuspinnen, da er sich ihrem verwirrten pubertierenden Sohn als väterlicher Freund empfiehlt.

Die Botschaft lässt sich kaum verkennen: Nicht nur in New York, wo Salm gerade sein Atelier verloren hat, gibt es Leute, die unser Interesse verdienen, sondern in allen und gerade den bescheidensten Winkeln der Welt. Dass diese Einsicht in Salm allmählich zur Reife gelangt, sagt der Roman nicht ausdrücklich, führt es aber konkludent in dessen Handlungen vor, in die sich eine verlegene Warmherzigkeit einzuschleichen beginnt. Der Winter ist hart, das Wetter schlecht, die Tage sind dunkel, das alles senkt die Stoffwechselgeschwindigkeit von Mensch und Buch.

Es hört sich so an: "Salm nahm drei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und bezahlte sie. 'Wissen Sie, wo ich Schlaftabletten kaufen kann?' Der Mann legte ihm das Wechselgeld, ein paar kalte Münzen, in die Handfläche. Sein Blick streifte Salm; Feindseligkeit lag darin nicht, höchstens etwas schläfrig Gleichgültiges. 'Apotheke', sagte Salm in Erwägung der Möglichkeit, dass der Mann kaum Deutsch verstand. 'Apotheke', wiederholte der Mann, was aus seinem Mund wie ein träger Abschiedsgruß klang. Salm schob zwei Bierflaschen in die Manteltaschen, griff die dritte mit der linken Hand und ging zur Tür."

Das ist so das Generaltempo, in dem sich das Grundthema von Salms Verwandlung entfaltet. Der Leser beginnt sich zu fühlen, als stünde er in der Schlange hinter Salm, während dieser nicht etwa bloß das Wechselgeld, nein vielmehr die kalten Münzen einstreicht und in der Erwägung von Möglichkeiten verweilt; er beginnt ungeduldig zu werden.

Ein schriftstellerischer Instinkt hat Lappert davor bewahrt, seine Geschichte direkt in die Weihnachtszeit zu verlegen; aber weit weg davon ist sein Winter nicht. In der Tristesse am Fußpunkt eines Jahres, eines Lebens glimmt ein Funke der Hoffnung auf. Zum Schluss hin nimmt sich Salm eines von bösen Menschen ausgesetzten, halb verhungerten Pferdes an, für das er Stall und Futter schafft. Dazu überlegt er, wie sich für seinen alten Vater, der die Treppen nicht mehr bewältigt, ein Aufzug bauen ließe.

Und es kommt ihm der geniale Gedanke, dass besagtes Pferd jenen Aufzug antreiben könnte: Mit einem Streich zwei gute Taten für Mann und Ross, statt des windigen Künstlertums ein grundsolides Stück Handarbeit wie aus dem Manufactum-Katalog, und alle Armut von Höherem umstrahlt wie das Kind in der Krippe. Wäre das Buch hier nicht ohnehin zu Ende, so wäre dies der Punkt, die Lektüre abzubrechen vor so viel schwergängig knarrender Sentimentalität.

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