London-Roman "Regenschirm":Herzenskälte im Hahnentritt

Kürzlich hat der englische Autor Will Self die Kunstform des Romans für tot erklärt - sein neuer Roman aber ist quicklebendig und entwirft ein Jahrhundertpanorama Londons.

Von Ulrich Baron

Auf dem Weg zur Arbeit hat Will Selfs Protagonist Zachary Busner die Kinks mit ihrem im Winter 1970/71 gerade aktuellen Hit "Ape Man" in den Ohren und den Scheitelpunkt seiner Karriere als Psychiater vor sich. Jahrzehnte später wird er an diesen Schauplatz zurückkehren, der gerade in ein Luxusquartier umgewandelt wird. Wird sich an Audrey Death erinnern, sein "Dornröschen", das er aus langem Schlaf geweckt und dann dem Vergessen überlassen hatte.

Als er sie das erste Mal wahrnimmt, ist Audrey eine uralte Frau - "tief gebeugt, extrem kyphotisch", seit einem halben Jahrhundert in sich verkapselt. Sie ist ein Opfer der Encephalitis lethargica, jener Europäischen Schlafkrankheit, deren epidemisches Auftreten gegen Ende des Ersten Weltkriegs bis heute rätselhaft ist: "Ihr Gehirn ... befindet sich außerhalb der Zeit".

In den Ausdruck "kyphotisch" hat Will Self sich verliebt; er bezieht sich auf eine Verkrümmung der Wirbelsäule, die an den Griff des titelgebenden Regenschirms erinnert. Am Schluss wird sich für Zachary beides überlagern: Der Anblick eines Regenschirms und die Erinnerung an die "in den seidigen Faltenwurf ihrer alten fleckigen Haut" gehüllte Audrey, in der die Welt von Gestern fortlebte, bis ein Prinz im weißen Kittel sie geweckt und enttäuscht hat.

In das Wort "kyphotisch" verliebt

Als es Zachary gelingt, seine Patientin aus ihrem Stupor zu wecken, löst er eine "Zeitbombe" aus, die das Kontinuum des Jahrhunderts aufsprengt, reißt er ein Hirn in die Gegenwart von 1971, das um 1916 herum einzuschlafen begonnen hatte. Ohne Absätze mischt sich sein Bewusstseinsstrom mit der Geschichte Audreys und ihrer Brüder: Dem älteren, hochbegabten, aber fühllosen Albert, der seine Karriere damit beginnt, die Produktion jener Granaten zu organisieren, die Audrey in einer Munitionsfabrik zusammenbaut, während ihr jüngerer Bruder Stanley im Krieg verschwindet.

So entsteht ein perspektivisch gebrochenes Jahrhundertpanorama Londons: Jugend um Neunzehnhundert, Arm und Reich, Frauenbewegung, Sozialismus, reaktionäre Karrieren, Urbanisierung und Hospitalisierung. In den Klang der Zeit mischen sich Gossensprache und feines Parlando, Militär- und Fachjargon. Grenzen zwischen Schlachtfeldern und Golfplätzen verwischen sich.

Maschinenwehrkugeln sirren, "wenn sie weiches Material durchriffeln - Fleisch Kleidung, Hirn". Im Schattenland des Krieges stehen die "idiotischen Schilder" mit Londoner Straßennamen, die Soldaten aus Bretterresten hergestellt haben: "Sie hatten, dachte Stanley, offenbar versucht, aus den Leichenhaufen, den Gräbern und Kratern eine Landschaft herzustellen, die sie an ihre Heimat erinnerte".

Dass diese Morituri aus den Gräbern ihrer Vorgänger etwas herzustellen versuchen, was sie an eine Heimat erinnern soll, die ihre Todgeweihten bald vergessen wird, hat Beckettsche Qualität. Will Self, 1961 in London geboren, Absolvent des Exeter College in Oxford, zitiert im Motto gar James Joyce: "Ein Bruder wird so leicht vergessen wie ein Regenschirm." Wann, wird sich Zachary fragen, wurde etwas, das seit Robinsons Crusoes Zeiten Sinnbild zivilisatorischen Überbaus war, wann, "wurde der Regenschirm zu einem Objekt, das man üblicherweise vergisst, statt sich seiner gewissenhaft zu erinnern?"

"Schreckliches, unveränderliches Jetzt"

"Regenschirm" ist ein Buch vom Erwachen und Vergessen. Die Encephalitis lethargica erscheint darin auch als Reaktion auf die Mechanisierung und Verzifferung, die das Rechengenie Albert betrieben und die Digitalisierung fortgesetzt hat. Nachdem Zachary die Tics seiner Patientin gefilmt hat, liefert ihm ein Praktikant eine Erklärung - "voll unheimlich, da sitzt die Alte und bedient eine unsichtbare Revolver-Drehbank". In ihr "schreckliches, unveränderliches Jetzt" verkapselt, sitzt Audrey noch immer in der Munitionsfabrik, wartet sie noch immer auf eine Nachricht von Stanley.

Aber Stanley ist verschollen, und Albert Death hat sich in Sir Albert De'Ath verwandelt, während Audrey, die Albert für Stanleys Schicksal verantwortlich gemacht hat, in einen Schlaf gefallen ist, in dem sie noch immer ihres Bruders Hüterin zu sein scheint. Dafür sprechen Passagen, in denen Stanley auf troglodytenhafte Weise im Boden unter den Schlachtfeldern fortlebt.

In die Gegenwart von 1971 gerissen

Das Erwachen Audreys mit Hilfe von Medikamenten erscheint zunächst unproblematisch, doch Zachary hat nicht bedacht, dass damit auch ihre Hoffnung auf Stanleys Rückkehr geweckt wird.

Als er seiner Patientin den Besuch ihres Bruders ankündigt, ist sie voller Vorfreude, doch dann steht der falsche vor ihr: Ein "Turm von abertausend winzig schwarzen Fenstern", vom Gesicht Alberts gekrönt, "durch dessen vorstehende graue Augen ein Blick auf sie fällt . . . Todesstrahlen." Sir Albert, der seine Schwester Jahrzehnte lang ignoriert hat, steht in einem Anzug vor ihr, dessen Hahnentrittmuster an dunkle Fensterhöhlen erinnert, aus denen ihr Herzenskälte entgegenstrahlt und sie in die Vergangenheit zurückstößt. Im Original fällt sie auch sprachlich zurück - "death rays" werden dort zu "deff rays".

Dass auch er selbst die "Verbrechen des Vergessens" begangen hat, nicht nur an Audrey, die nach diesem Schock einen Rückfall hatte, wird den alten Zachary bis ans Ende des Romans verfolgen. Eben noch die Kinks im Ohr, eben noch die futuristische Quarzuhr vor Augen, die seine Frau ihm zum einunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, ist er eines Tages aufgewacht und hat feststellen müssen, "dass er ein alter Mann ist".

Nicht nur alt, sondern "diesmal wirklich tot" sei der Roman, hat Will Self unlängst in einem vom Guardian nachgedruckten Vortrag verkündet. Sein jüngster eigener Roman jedoch erinnert daran, dass Self sich zwei Jahre zuvor fasziniert von Oliver Sacks Buch "Hallucinations" gezeigt hatte, in dem es um Wahrnehmungen von etwas geht, das nicht da ist. Die Möglichkeit Bilder, Eindrücke, Gedanken, Fantasien, Empfindungen, Begriffe und alles, was wie für die Welt halten, in Wörter und diese in einen übergreifenden Romanzusammenhang zu fassen, der zugleich abgeschlossen und offen ist, bleibt unausschöpfbar, weil jeder Leseakt eine neue Variante der Geschichte, eine neue Halluzination schafft.

Eben hat Zachary noch die Kinks im Ohr

Jede Übersetzung auch. Wenn Zacharys Bewusstseinsstrom vor lauter fachlichen Überlegungen gerinnt, watet er bei Self nicht durch einen "Brei", sondern durch -eine "Brown Windsor", eine Art Gulaschsuppe, die mit ihrem Assoziationsspektrum vom Königlichen bis zum Unappetitlichen kein deutsches Gegenstück hat. Angesichts von Selfs polyphoner Mischung aus Psychiater- und Gassenjargon, literarischen Zitaten, Londoner Ortsnamen und historischen Soziolekten, angesichts der fliegenden Wechsel von Zeiten und Perspektiven kann man die Herkulesarbeit, die der Übersetzer Gregor Hens bewältigt hat, nur bewundern.

Und manchmal auch anderer Meinung sein. Etwa dass der Regenschirm, der am Ende an Zacharys "Sleeping Beauty" erinnert, ihm kein "klagendes" Ende zeigt, sondern ihm ein "accusatory", also ein anklagendes Ende zuwendet. Vergessen wir den Tod des Romans - in Will Selfs "Regenschirm" ist er auf bedrängende, bedrückende, anklagende, unvergessliche Weise lebendig.

Will Self: Regenschirm. Roman. Aus dem Englischen von Gregor Hens. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2014. 496 Seiten, 24,99 Euro, E-Book 19,99 Euro.

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