Little Britain:Nackte! Und dann zu spät!

Londoner U-Bahn wird 150 Jahre

U-Bahn-Station rein, rechts wieder raus und dann immer geradeaus geht es zur Lesung.

(Foto: dpa)

Lesungen können interessante Erkenntnisse über den jeweiligen Autor zutage fördern. Doch der Sinn von unbekleideten Frauen, die in London vorlesen, erschließt sich nicht jedem sofort.

Von Christian Zaschke, London

Mehrmals hatte ich, wie ich fand, deutlich genug gesagt, dass ich sicherlich nicht mitkommen würde. Was soll nicht deutlich genug sein an: "Vergiss es. Lass mich mit dem Scheiß bitte in Ruhe." Doch der stets erstaunliche G. ließ nicht locker. Er rief an, wieder und wieder. An meine Dienstadresse schrieb er diese Mail: "Zu verklemmt?" Ich bin nicht zu verklemmt. In punkto Verklemmtheit liege ich ziemlich genau auf halber Strecke zwischen Brasilien und dem Vatikan. Es war ganz einfach so: Mir erschloss sich der Sinn nicht. "Trau Dich halt", mailte er an meine Privatadresse.

2009 haben erstmals nackte Frauen unter dem Motto "Naked girls reading" in Chicago vorgelesen, dann in 18 weiteren Städten, darunter London. Nun lasen erneut nackte Frauen in London vor. Na und? "Ist es die Angst?", sprach G. auf den Anrufbeantworter.

Im Grunde mag ich Lesungen. Nie werde ich vergessen, wie Cees Nooteboom bei einer Lesung betont unauffällig auf das Thema Sprachen kam und dann unfassbar nebenbei sagte: "Ich spreche ja mehrere." Er sagte es gerade so unfassbar nebenbei, dass es niemand überhören konnte.

Im Internet nannte mich G. einen "Feigling". Oder wie der wunderbare Jakob Arjouni mal ganz genau 60 Minuten gelesen hatte, sein Buch zuklappte und sich bedankte. Eine Frau im Publikum protestierte und sagte, das sei viel zu kurz gewesen. Nur eine Stunde. Arjouni sah auf seine Uhr. Er hatte ein paar schöne Erfolge mit seinen sehr lässigen Kayankaya-Krimis gefeiert und wurde nun endlich auch als literarischer Autor ernst genommen. Er schaute und schaute, dann waren 61 Minuten vergangen, seit er begonnen hatte zu lesen. "Das war sogar mehr als eine Stunde", beschied er freundlich.

Was wusste G. schon von Lesungen? Oder wie Harry Rowohlt, der zu den besten Vorlesern der Welt zählt, den Mynheer Peeperkorn aus Thomas Manns "Zauberberg" immer so aussprach, dass ein älterer, rotgesichtiger Zuhörer, der neben mir saß und wusste, wie man "Mynheer" wirklich ausspricht, sich schweigend so erregte, dass er leise dampfte.

G. simste: "U-Bahn-Station Angel, rechts raus. Immer geradeaus. Old Queen's Head, erster Stock. Um acht geht's los." Als ich diesen Tick zu spät im Old Queen's Head ankam, stieg ich in den ersten Stock und verharrte auf dem obersten Treppenabsatz. Ich hörte eine Frauenstimme, die etwas Trauriges von Raymond Carver vorlas. Sie klang heiter, an einer besonders traurigen Stelle lachte jemand. Eine Minute verging. Naked girls reading. Natürlich würde es ein erstaunlicher Abend werden. Eine weitere Minute verging. Herrje, dachte ich, verfluchte den G. und öffnete die Tür.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: