Literaturpreis:Stimmen im Zwischenreich

Buchmacher und Kenner hatten es erwartet: Mit seinem Roman "Lincoln in the Bardo" gewinnt der 58-jährige Texaner George Saunders den renommierten Man-Booker-Preis.

Von Alexander Menden

Wenn man auf den Ausgang des Booker-Preises Geld wettet - und das tun erstaunlich viele -, dann gilt eine Daumenregel: Nie auf den Favoriten setzen. Damit wäre man in den meisten Jahren gut beraten gewesen, aber nicht in diesem. George Saunders war mit seinem Roman "Lincoln in the Bardo" von den meisten Kritikern (und Wettbüros) als heißester Kandidat auf den mit 50 000 Pfund dotierten Literaturpreis gehandelt worden. Nun hat er ihn gewonnen. Nachdem er vor drei Jahren als erster den Folio Prize, eine eigens als Konkurrenz zum Booker aus der Taufe gehobene Auszeichnung, erhalten hatte, ist ihm damit nun sozusagen das Original nachgereicht worden. Der 58-Jährige ist nach Paul Beatty der zweite Amerikaner, der den Booker erhält, dessen Regeln bis 2014 nur Autoren aus Großbritannien und dem Commonwealth-Raum zuließen. Mahner, die vorausgesagt hatten, diese Öffnung werde zu einer Dominanz amerikanischer Autoren führen, mögen sich bestätigt fühlen. Doch die Jury ließ keinen Zweifel daran, dass "Lincoln in the Bardo" sich allein aufgrund seiner literarischen Meriten durgesetzt habe. Die Jury-Vorsitzende Lola Young beschrieb den Roman, der in einer Art Drehbuchformat geschrieben ist, als "Herausforderung an den Leser, sich mit dieser Art Geschichte auseinanderzusetzen". Stelle man sich dieser Herausforderung, werde man mit einer "geistreichen und tief bewegenden Erzählung belohnt".

Der gebürtige Texaner Saunders war bisher als Kurzgeschichtenautor in Erscheinung getreten und vielfach ausgezeichnet worden. Den Folio etwa gewann er für seine Short-Story-Sammlung "Tenth of December". Mit "Lincoln in the Bardo" sei er zwanzig Jahre lang schwanger gegangen, bevor er ihn niedergeschrieben habe, sagte er nach der Preisverleihung.

Den Kern des Romans bildet ein historisches Ereignis. Während des amerikanischen Bürgerkriegs besucht Präsident Abraham Lincoln ein letztes Mal den aufgebahrten Leichnam seines Sohnes Willie, der mit elf Jahren an Typhus gestorben ist. Um diesen Tod, der Lincoln und seine Frau untröstlich zurückließ, baut Saunders eine jenseitige Parallelwelt. Der Friedhof ist bevölkert von den Seelen der Toten, die streiten, wie man Willie am besten durch "Bardo" helfen kann, im tibetischen Buddhismus ein Zwischenreich zwischen Dies- und Jenseits. Saunders vermischt die Einlassungen der Toten mit Augenzeugenberichten aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, ein Stimmengewirr, in dem sich keine historische Wahrheit festzurren lässt.

George Saunders zeigte sich tief bewegt von der Auszeichnung, und rief dazu auf, "in diesen seltsamen Zeiten" auf Angst nicht mit Ausgrenzung zu reagieren, sondern mit dem Glauben daran, "dass das, was anders erscheint, in Wahrheit genau wie wir ist, nur auf eine andere Art".

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