Literaturnobelpreis 2014:Kampf um das perfekte Ranking

Literaturnobelpreis

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(Foto: SZ-Grafik: Eiden)

An diesem Donnerstag wird der Literaturnobelpreis vergeben. Und wieder wird man sich darüber streiten, ob der Gewinner den Preis verdient hat. Gibt es ein Bewertungsverfahren, mit dem sich das beste literarische Gesamtwerk der Welt bestimmen lässt? Ein Versuch.

Von Carlos Spoerhase

Der Literaturnobelpreis wird vergeben - und wieder ist die ganze Welt (oder wenigstens die ganze literarische Welt) vorher ein bisschen aufgeregt - und hinterher skeptisch bis gar nicht einig, ob der Gewinner oder die Gewinnerin den Preis wirklich verdient habe, weil, wenn man sich das Werk des Siegers einmal genauer ansehe, erkenne man doch deutlich diese oder jene Mängel, handwerklich, dramaturgisch, stilistisch und so weiter - stopp! Müsste die Frage nicht zuerst einmal lauten: Gibt es eigentlich ein Bewertungsverfahren, womöglich sogar eine etablierte Methode, mit denen sich das beste literarische Gesamtwerk der Welt bestimmen lässt?

So heterogen wie die Lektüreeindrücke der Mitglieder der schwedischen Akademie dürften in der Regel die literarischen Wertkategorien sein. Unabschließbar wirkt die Liste der Kriterien, die für eine Bewertung relevant sein könnten: Ist das Werk formal stimmig? Bedient es sich einer anspruchsvollen Sprache? Ist es innovativ oder originell? Schließt es an große literarische Traditionen an oder bricht es mit ihnen? Entwickelt es eine ethisch-moralische Perspektive auf das politische Weltgeschehen? Ist das Lesen der Bücher eines Autors ein lustvolles Erlebnis?

Der Ruf nach einem Ranking

Und selbst wenn es der Jury gelingen sollte, sich auf ein begrenztes Set anzuwendender Kategorien zu einigen: Wie sollte es ihr gelingen, einen Konsens über die einzelnen Werte zu erzielen, die Kandidaten in den jeweiligen Kategorien zugewiesen werden? Wie sollte man Don DeLillos legendäre narrative Anfangssequenzen bewerten? Und selbst wenn man sich diesbezüglich einigen könnte: Wie sollten diese Einzelnoten dann wiederum zu einem Gesamtwert verrechnet werden? Entschädigt der brillante Stil eines Œuvres für eine fragwürdige Moral? Können ingeniöse Personencharakterisierungen langweilige Handlungsstränge aufwiegen? Lässt sich mangelnde Originalität durch tief aus der Brust gepresste Authentizitätsgesten ausgleichen?

Jede Preisvergabe muss folgendes Problem lösen: Am Ende müsste erstens für jedes Gesamtwerk ein Gesamtwert feststehen. Und zweitens müsste sich am Ende des Wertungsvorgangs eine klare Hierarchie aller Gesamtwerke herstellen lassen. Es reicht nicht zu sagen: Das eine Œuvre bereite viel Lust, dafür habe das andere mehr Erbauung zu bieten. Ein Gesamtwerk muss insgesamt das Beste sein.

Überall, wo in der Gegenwart Hierarchisierungsbedarf in Wertungsfragen besteht, ist der Ruf nach einem Ranking nicht fern, von den Universitäten bis zu Alltagsvergnügungen. Ranglisten prägen auch den Literatur- und Kunstbetrieb. Bücher werden in Bestsellerlisten nach ihren Verkaufszahlen hierarchisiert, die Zeitungen publizieren Listen mit den teuersten Kunstobjekten der Auktionssaison. Kleine Gruppen von Literaturkritikern erstellen Bestenlisten der Werke, die ihnen am meisten zusagen - ohne freilich die ihren gemeinsamen Entscheidungen zugrunde liegenden ästhetischen Wertungsakte umfassend offenzulegen. Und die britischen Buchmacher bedienen sich Jahr für Jahr der kruden Probabilistik der Gewinnquote, wenn sie ihre Ranglisten der aussichtsreichsten Nobelpreisanwärter publizieren.

Eine differenziertere Liste

Angesichts dieser grobschlächtigen Literatur-Rankings kann man den Eindruck gewinnen, dass die Alternative zum Ranking nicht Listenabstinenz sein kann, sondern nur eine differenziertere Liste. Man sollte es auf einen Versuch ankommen lassen: Legt man also - wie wir es anlässlich der diesjährigen Literaturnobelpreisvergabe getan haben - den Literaturkritikern der großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen eine ästhetische Kategorientafel vor und bittet sie um eine numerische Bewertung der 20 Schriftsteller, die laut dem Londoner Buchmacher Ladbrokes die besten Chancen haben, in diesem Jahr den Nobelpreis zu gewinnen, so erhält man die auf dieser Seite abgedruckte Grafik.

Sie beruht auf den Wertungen von 13 bekannten deutschen Literaturkritikern: Gregor Dotzauer, Ina Hartwig, Dirk Knipphals, Iris Radisch, Volker Weidermann, Gerrit Bartels, Richard Kämmerlings, Sandra Kegel, Felicitas von Lovenberg, Ursula März, Christopher Schmidt, Ijoma Mangold und Hubert Winkels.

Erfolgsgeschichte der Rangliste

Das Verfahren und die dabei in Anschlag gebrachten Wertungskriterien sind nicht neu. Die ästhetische Geselligkeitskultur des 18. Jahrhunderts war nicht minder konkurrenzfreudig und ranglistenselig als unsere Gegenwart. Einige Literatur- und Kunstkritiker der Aufklärung haben sich daher intensiv darum bemüht, die dunklen und verworrenen individuellen ästhetischen Erfahrungen in klare und deutliche Wertungsakte zu überführen, um den künstlerischen Rang von Autoren, Malern und Komponisten mit Zahlenwerten auszudrücken und in Listen darzustellen.

Die Erfolgsgeschichte der quantifizierenden Rangliste beginnt also in der Literatur- und Kunstkritik des 18. Jahrhunderts. Das Verfahren war von dem französischen Künstler und Kunstkritiker Roger de Piles 1708 zunächst für die Bewertung von Malern vorgeschlagen worden. Schon vor der Jahrhundertmitte war es bei der Bewertung von literarischen Gesamtwerken im Einsatz.

Null Punke für Shakespeare?

Anfangs wurden allerdings nur Autoren in die Rangliste aufgenommen, deren Klassikerstatus bereits feststand. Im Ranking des britischen Dichters Mark Akenside ist der zwei Jahre zuvor verstorbene Pope der jüngste Autor. Die wichtigsten Ergebnisse seiner auf dieser Seite abgedruckten Liste von 1746, die maximal 20 Punkte vergibt, sind schnell skizziert: Homer und Shakespeare tragen in der Gesamtwertung mit jeweils 18 Punkten den Sieg davon, dicht gefolgt von Milton und Vergil. Ganz vorn liegen, mit Ausnahme von Shakespeare, nur Epen-Dichter.

Literaturnobelpreis 2014: Internationales Autoren-Ranking des Dichters und Leibarztes der britischen Königin, Mark Akenside, von 1746.

Internationales Autoren-Ranking des Dichters und Leibarztes der britischen Königin, Mark Akenside, von 1746.

(Foto: oh)

Shakespeare erreicht einen Gesamtwert von 18 Punkten, obwohl sein Werk an Geschmack ("Taste") und Versbau ("Versification") erheblich zu wünschen übrig lässt (jeweils nur 10 Punkte) und seinen Werken eine innere Struktur vollkommen abgeht (0 Punkte für "Critical Ordonnance"). Wer also bei Akenside 0 Punkte in einer Kategorie bekommt, kann trotzdem auf ein gutes Gesamtergebnis hoffen.

Der Dichter und Literaturkritiker Christian Friedrich Daniel Schubart wandte Anfang der 1790er-Jahre in seiner "Kritischen Skala der vorzüglichsten deutschen Dichter" das Verfahren Akensides auf die deutsche Gegenwartsliteratur an. Auffällig an Schubarts Rangliste ist zunächst, dass er im Gegensatz zu seinem Vorläufer auf die Kategorie "Moral" ebenso verzichtet wie auf die Ermittlung eines Gesamtwerts (bei Akenside: "Final Estimate"). Eine Verrechnung der Einzelwerte erweist sich für Schubart deshalb als überflüssig, weil für ihn eine Wertkategorie alle anderen übertrumpft: das "Genie".

Bewusstsein eines literarischen Generationenwechsels

Klopstock, der am meisten "Genie" hat, ist für Schubart dann auch "bei weitem unser erster Dichter". Er bildet für alle anderen deutschen Dichter den überragenden Bewertungsmaßstab. Schubart weiß, dass er mit seinem Ranking eine Form von literarischem "Benchmarking" betreibt: Die deutschen Dichter können nun endlich einschätzen, wie groß der Abstand ist, der sie von Klopstocks Spitzenposition trennt. Schubart wählt dafür das folgende Bild: "Der Zwerg sieht deutlicher, daß er ein Zwerg ist, wenn er sich am Maße der Potsdamer Garde hinaufstreckt."

Wer für Schubart die Zwerge sind, wird klar, wenn man den Blick auf den Fuß seiner Rangliste gleiten lässt. Die dort aufgeführten "ältern deutschen Dichter" Bodmer, Hagedorn, Gellert und Rabener können schon lange nicht mehr mit neueren Dichtern wie Klopstock, Wieland, Goethe und Schiller mithalten. Kein älterer deutscher Schriftsteller erzielt einen "Genie"-Wert über 16 Punkte, während unter den neueren insgesamt sieben diese Punktzahl überschreiten. Schubarts Ranking dient also nicht nur einer Evaluation der zeitgenössischen Poeten; es artikuliert vor allem auch das Bewusstsein eines literarischen Generationenwechsels, der die ältere Dichtergeneration in den tiefen Keller des Literatur-Rankings verwiesen hat.

Nádas, Adonis, Pynchon und Roth: in allen Kategorien hohe Werte

Die Literatur-Ranglisten von Akenside und Schubart sind nur vordergründig eine Art ästhetischer Arithmetik. Faktisch sind sie wohl kaum mehr als die numerische Darstellung ihrer eigenen, bereits vorab feststehenden Wert-Intuitionen. Da das Ranking in beiden Fällen nur darstellt, was man schon vorher dachte, kann es bei abweichenden Positionen keinen Konsens stiften. Aber es kann den Dissens transparenter machen.

Auffällig ist in unserer Aktualisierung des Aufklärungs-Rankings, dass einige Autoren in allen Kategorien hohe Werte erzielen: Péter Nádas, Adonis, Thomas Pynchon und Philip Roth. Im Gegensatz zu diesen Allroundern erzielen andere Autoren nur in einer Einzelkategorie Spitzenwerte: Umberto Eco ist lediglich bei der Gelehrsamkeit ganz vorne dabei; Haruki Murakami und Milan Kundera erhalten nur im Bereich der Unterhaltsamkeit die vordersten Plätze; und Swetlana Alexijewitsch glänzt allein beim politischen Engagement.

Scharfer Dissens bei Bob Dylan, Peter Handke und Murakami

Studiert man die erhobenen Rohdaten, die in der Grafik verarbeitet wurden, so zeigt sich, dass in einigen Fällen der Konsens der Kritiker sehr hoch ist. Autoren wie Nádas oder Adonis erfreuen sich breiter Anerkennung (im Fall von Adonis ist nur umstritten, ob Lyrik langweilig ist). Bei Bob Dylan, Peter Handke und Murakami besteht dagegen scharfer Dissens. Dylan erhält von einigen Kritikern durchweg den Höchstwert 20; andere Kritiker geben ihm ausnahmslos die schlechtesten Noten. Ein Grund für diese starke Spreizung mag die Uneinigkeit darüber sein, ob der Singer-Songwriter überhaupt als Dichter zu klassifizieren ist - eine Frage, die viele Dylan-Fans emphatisch bejahen.

Musician Dylan waits backstage prior to Presidential Medal of Freedom ceremony in the East Room of the White House in Washington

Nobelpreis für seine Lyrik? Deutsche Literaturkritiker streiten sich über den literarischen Wert der Songtexte Bob Dylans.

(Foto: Jason Reed/Reuters)

Auch die Bewertung der Romane Murakamis erweist sich als kontrovers. Sowohl die formale Versiertheit als auch die kulturelle Bildung des japanischen Romanciers erhalten von den Kritikern manchmal die höchsten und manchmal die niedrigsten Noten. Vermutlich besteht hier kein Konsens darüber, ob der postmoderne Umgang mit Form und Kultur wirklich Ernst genommen und mit einer hohen Punktzahl gewürdigt zu werden verdient.

Viele Kritiker - wie Gregor Dotzauer, Felicitas von Lovenberg, Ijoma Mangold oder Hubert Winkels - halten sich gern in den oberen Geschossen der Punkteskala. Einige - wie Gerrit Bartels oder Volker Weidermann - steigen dagegen häufig bis in den tiefsten Keller des Notenspektrums hinab. Ob das mit den individuellen Temperamenten, unterschiedlichen literaturkritischen Traditionen zusammenhängt, erschließt sich aus der Liste nicht.

Die aussichtsreichsten Anwärter: die Allrounder

Die unterschiedlichen Praktiken führen im Ergebnis aber trotzdem zu einer relativ starken Übereinstimmung bei den bestbewerteten Autoren. Die aussichtsreichsten Anwärter für den Literaturnobelpreis sind der deutschen Literaturkritik zufolge die Allrounder: Neben dem ewigen Kandidaten Philip Roth sind das die Erzähler Nádas und Pynchon und der Lyriker Adonis.

Das aktuelle Ranking wirft wie schon das ästhetische Gesellschaftsspiel der Aufklärung eher Wertungsfragen auf, als dass es sie beantwortet. Eben darin liegt seine Stärke. Denn die Funktion der Ranglisten literarischer Œuvres liegt nicht darin, dass sie Urteilsgewissheit verbürgen, sondern dass sie die Unsicherheiten, die den ästhetischen Urteilsakt begleiten, grell hervortreten lassen. Vielleicht sollten wir - oder wenigstens der Gewinner - doch dankbar sein, dass der Vorgang der Entscheidungsfindung des Nobelkomitees auch diesmal wieder im Dunkeln bleiben wird.

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