Literaturland Brasilien:Text als Tanz

Ricardo Domeneck

Ricardo Domeneck, 1977 in São Paulo geboren, lebt seit 2002 in Berlin. Er hat Hans Arp, H.C. Artmann und T. Brasch ins Portugiesische übersetzt.

(Foto: Hans Praefke)

Nicht jeder brasilianische Autor will repräsentativ für Brasilien sein. Der Lyrik-Performance-Künstler Ricardo Domeneck lebt seit zehn Jahren in Berlin und gehört zur experimentierfreudigen europäischen Lyrik-Szene. Zu seinen Gedichten gehört auch sein Körper.

Von Michaela Metz

Deutsche Lyrik trifft auf brasilianische Lyrik. Unter diesem Motto stand eine Lesung während der Leipziger Buchmesse, an der auch Ricardo Domeneck teilnahm, eingeladen als Repräsentant der brasilianischen Lyrik. "Aber", erklärt Domeneck, "ich sehe mich nicht als brasilianischen Schriftsteller. Ich bin ein Schriftsteller aus São Paulo, der in Berlin lebt." Ganze Länder zu vergleichen sei eine zu große Abstraktion. Man könne sich doch schon kaum zwei unterschiedlichere Städte als Berlin und München vorstellen, und die lägen beide in Deutschland.

Schon seit zehn Jahren lebt der 1977 geborene Lyrik-Performance-Künstler in Berlin. Der Großvater stammte aus Katalonien, Domeneck ist ein katalonischer Name. Die Großmutter war Italienerin. In München, wo er anfangs Deutsch als Fremdsprache studierte, hatte er es ein knappes Jahr ausgehalten. Die Stadt war ihm zu teuer. Eigentlich wollte Domeneck nur ein Jahr in Deutschland leben, doch dann ist er geblieben. "Europa ist wichtig für meine Arbeit", sagt Domeneck. "Hier gibt es ein Netzwerk experimenteller Lyrik, Festivals und einen Respekt für die Literatur, der in Lateinamerika oft fehlt."

Körper und Gedicht

Domeneck ist es wichtig, mit seinem Körper zu arbeiten, er bewegt sich auf der Bühne, liest mit schmerzhaft verschränkter Körperhaltung oder verbindet Lyrik mit Tanz. In seinen Texten will er die Trennung zwischen Körper und Geist aufheben. "Ich arbeite an der Grenze dieser Dualität", sagt er. Er will diese Grenze nicht mehr als Trennung sehen, sondern als Verbindung.

Deswegen bezieht sich Domeneck in seiner Lyrik immer auf den Körper. Der Titel seines kürzlich erschienenen zweisprachigen Gedichtbands lautet: "Körper: Ein Handbuch" (Corpo: Um Manual). Odile Kennel hat seine collageartigen Texte mit anatomischen Begriffen, Regionalismen, Gay-Slang und Alltagssprache nach Hunderten "Küchengesprächen" mit dem Autor feinfühlig ins Deutsche übersetzt (Verlagshaus J. Frank, Berlin 2013. 240 S., 16,90 Euro) Im ersten Text, "Kör | per", einer Art lexikalischen Vermessung des Menschen, nennt Domeneck den Körper ein "Modell, das die Mechanik der Reinheit gefährdet", "Ramsch, der auf Fotos nicht schwitzt", "ein gemütliches Möbelstück, das gepflegt werden will".

Das Sagbare sagen

In einer Videoperformance auf Youtube philosophiert Domeneck über die Krise der Poesie. Der Künstler liegt, bekleidet mit schwarzem Rollkragenpullover und Mantel, in einer Badewanne, das Wasser läuft: Poesie sei keine Literatur, Poesie sei Performance, sagt er, bevor auch sein Mund überspült wird. Unter Wasser blinzelt er minutenlang in die Kamera - abgetaucht. Domeneck will damit nicht dem Klischee folgen, dass Dichter darum ringen, das Unsagbare zu sagen. Er bezieht sich auf den deutschen Lyriker Helmut Heißenbüttel und sein Buch: "Das Sagbare sagen." "Das fand ich berührend", sagt der Wahlberliner. "Ich will auch das Sagbare sagen und dass Sprache sprechbar ist."

Obwohl Domeneck der Generation der Nachgeborenen der Diktatur in Brasilien angehört, haben ihn die Opfer des Militärputsches gefangen genommen. Seine Eltern engagierten sich nicht politisch. Der Vater tolerierte das, was im Land passierte. "Das war ein Problem zwischen uns", sagt der Sohn. Jedes Jahr am 31. März, dem Gedenktag des Militärputsches in Brasilien 1964, dem eine Diktatur folgte, versucht er, etwas über das Leben eines Opfers herauszufinden.

Was täten die Verschwundenen?

Die Folteropfer, Oppositionelle, deren Körper man nach ihrer Verhaftung nie wieder fand, nennt man in Brasilien "die Verschwundenen". Einer von ihnen, Ísis Dias de Oliveira, widmet Domeneck in seinem Gedichtband einen Text. Er überlegt, was diese Frau wohl an einem ganz normalen Sonntag tun würde, wenn sie noch lebte. Ob sie den Blues auf dem Sofa hätte, geschieden wäre oder schon den zweiten Mann hätte, sich fragte, warum sie diesen Kampf geführt hätte, oder ob sie emigriert wäre. "Ihre Finger wären vielleicht voller Druckerschwärze / von der Morgenzeitung / die vielleicht / wie früher / lügen würde / und das Schwarz / färbte ab auf die weiße / Keramiktasse, so wie / Materie von Materie / auf Materie übergeht / sofern lebendig / vielleicht."

Mit 17 verbrachte Domeneck ein Austauschjahr in den USA. Dort kam er erstmals in Kontakt mit der deutschen Sprache. Sein Gastvater hatte als GI in Deutschland gedient und seine Frau dort kennengelernt. Ein weiterer Gastschüler der Familie kam ebenfalls aus Deutschland. "Ich war ein Jahr lang mit zwei Deutschen und einem Amerikaner zusammen", erklärt er. "Das war mein erster Kontakt." Als brasilianischer Dichter im sprachlichen Exil zu leben, ist für ihn kein Problem. "Die verschiedenen Sprachen sind für mich keine Paralleluniversen", sagt Domeneck. "Ich lebe in meinem Sprachraum. Und der besteht aus Portugiesisch, Englisch und Deutsch."

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