Literaturkritik ohne Literatur:Ausweidung der Krampfzone

Der neue Roman von Houellebecq ist noch gar nicht erschienen und wird trotzdem in Frankreich schon grandios verrissen.

CLEMENS PORNSCHLEGEL

Es könnte sich auch um den Klappentext einer Billig-DVD handeln. Eine multinationale Industriegruppe, die im Waffen-, Flugzeug- und Mediengeschäft zu Hause ist, kauft einen Starautor. Der neue Roman wird im Harry-Potter-Stil vermarktet. Angeblich soll es um Gentechnik, Sekten, Sex und wilden Kapitalismus gehen. Presse, Fernsehen, Radio klopfen das Publikum weich. Rezensionsexemplare vor dem Buchstart gehen ausschließlich an Jubel-Journalisten. Ein großer Wurf, raunt der landeseigene Literaturpapst. Die Kampagne läuft nach Plan. Zwei Wochen vor dem Event erscheint plötzlich ein Verriss. Das Buch sei langweilig, belanglos, ein Megaflop. Irgendjemand muss dem renommierten Literaturkritiker und Gegner des Autors ein Exemplar zugespielt haben. Er selbst behauptet, das Buch fettverschmiert auf einer Parkbank gefunden zu haben. Vermutlich sei es von einem Lieferwagen gefallen, jemand habe es aufgelesen, dann wieder liegen lassen. Am Rande habe in krakeliger Schrift gestanden: "Was solln das Gewäsch? Hab nix kapiert." Flankiert wird der Verriss von der Polemik eines Verlegers, der sich darauf spezialisiert hat, die Machenschaften der Literaturmafia zu entlarven: manipulierte Medienauftritte, korrupte Autoren, gekaufte Literaturpreise.

Literaturkritik ohne Literatur: Szene aus Frank Castorfs Inszenierung der "Elementarteilchen" nach Texten von Michel Houellebecq.

Szene aus Frank Castorfs Inszenierung der "Elementarteilchen" nach Texten von Michel Houellebecq.

(Foto: Foto: dpa)

Die Geschichte könnte der Einstieg zu einem Kino-Thriller aus dem Supermarkt sein. Hinter dem Feuilletonistengezänk um das Buch, das vom Lastwagen fiel, würden zuerst Eifersüchteleien, dann Aktiengeschäfte, Waffenhandel, internationaler Terrorismus lauern. Der Starautor müsste in jedem Fall aber aussehen wie Michel Houellebecq. Die seltsame Geschichte hat sich in Frankreich nämlich tatsächlich zugetragen, und zwar im Vorfeld der Publikation des neuen Houellebecq-Romans "Die Möglichkeit einer Insel", der am 31. August erscheinen wird. Philippe Sollers kündigte das Buch vor zwei Wochen im Boulevardblatt Le Journal du Dimanche begeistert an und versprach gute Sexszenen. Im Figaro vom Donnerstag letzter Woche erschien unter dem Titel "Ein Houellebecq, der vom Lastwagen fiel" dann der böse Verriss Angelo Rinaldis von der Académie française. Zur einen Hälfte bestand er aus der Erzählung vom Buchfund auf der Parkbank, zur anderen Hälfte aus rüder Polemik: "Der Rückgriff auf Science-Fiction ist bei einem Romancier bereits ein Zeichen des Scheiterns."- "Etwas Armseligeres, Ärmlicheres und zugleich Unverständlicheres kann man sich kaum denken."

Der Akademiker Rinaldi hat Houellebecq in der Tat noch nie gemocht. Der Verleger Eric Naulleau wiederholte auf derselben Figaro-Seite seine Jeremiaden über die Pariser Literaturkorruption, die er in seinem vor zwei Jahren erschienenen Pamphlet "Petit déjeuner chez tyrannie" (Frühstück bei Tyrannis) schon ausführlicher formuliert hatte. Dass immer dieselben Autoren in denselben Feuilletons besprochen würden, dass Philippe Sollers ein Ex-Maoist sei, der von den totalitären Praktiken nicht lassen könne, dass das Geld die guten Sitten ruiniere... Entsprechend sei auch der neue Houellebecq, vom Buch und den sonstigen Sottisen des Autors einmal abgesehen, ein Symptom der "Perversionen eines maroden Systems", das sich neuerdings durch den "unerhörten Versuch" auszeichne, "die Literatur selbst aus dem literarischen Feld zu entfernen". Und zwar deswegen, weil der Verlag vor dem 31. August nur ausgesuchte Kritiker, zum Beispiel Philippe Sollers, aber nicht Angelo Rinaldi, mit dem Buch versorgt habe. Dass Naulleau sich mit seinem Artikel selbst kräftig an dem "unerhörten Versuch" einer Literaturkritik ohne Literatur beteiligte, schien ihn nicht weiter zu stören. Im Gegenteil. Bereits Mitte August publizierte er einen denunziatorischen Essay mit dem Titel "Hilfe! Houellebecq kommt wieder", um termingerecht von den üblen Praktiken des Literaturbetriebs zu profitieren.

Unfreiwillig macht er damit aber auch die andere Strategie Houellebecqs angesichts derselben Literaturbetriebspraktiken noch einmal deutlich. Houellebecq ist nicht ganz so dumm, wie seine Verächter gerne hätten. In den "Elementarteilchen" ist ein ganzer Erzählstrang den Pariser Verlagsrealitäten gewidmet. Die Antwort ist signifikant: Houellebecq lässt seinen kunstambitionierten Dilettanten angesichts der Zynismen des Kunstmarkts nicht zur verfolgenden literarischen Unschuld werden, der die ganze Welt mit eitlen Pamphleten über den Niedergang der Kunst in Atem hält, er schickt seine Figur lieber in Depressionen und Swingerclubs und verabschiedet sich damit von einem Literaturbegriff, dessen Schöngeistigkeit streng proportional zu seiner Verlogenheit ist.

Befangen in arg konventionellen Vorstellungen von "guter Literatur", ist Rinaldi und Naulleau offenbar noch nie aufgegangen, dass Houellebecqs Kunstgriff genau darin besteht, jede Art von korruptem Literaturgetue aus seinen Texten bewusst zu eliminieren, um stattdessen eine mausgraue Angestelltenprosa diesseits des akademischen Kunst- und Bildungsbetriebs zu erfinden. Die Stillosigkeit, die Houellebecq für sich in Anspruch nimmt und die ihm von Mitgliedern der Académie française natürlich übel genommen wird, ist deswegen kein Mangel. Sie ist vielmehr ein Verfahren, dem geschwätzigen Betrieb der Hochliteratur zu entgehen. Und zwar genau dorthin, wo den Kritikern nur noch Naserümpfen bleibt: in die Bahnhofskioske und Supermarktregale. Dort werden Bücher in der Tat nicht fürs Regal und für den sozialen Distinktionsgewinn erworben, sondern zum richtigen Lesen. Proust gegen Houellebecq auszuspielen, wie Angelo Rinaldi es tut, ist nicht nur billig, es ist von bestürzender Begriffsstutzigkeit. Im Übrigen zeugt es von eher bescheidener Kenntnis des Werks und seiner Zusammenhänge. Dass der "Bahnhofsliterat" kluge Einleitungen zu Auguste Comtes "Allgemeiner Religionstheorie" verfasst hat, geht im aufgeregten Invektivenhagel unter.

Natürlich ist der neue Houellebecq eine gigantische Marketingsache und die Vergabe der Pariser Literaturpreise ein trübes Geschäft. Natürlich ist der Verlag Fayard daran interessiert, mit dem Literatur-Star, den man Flammarion für mehr als eine Million Euro weggekauft hat, Profit zu machen. Das ist weder neu noch taugt es zum Skandal. Allerdings wird die Behauptung, die Literatur verschwinde immer mehr zugunsten billiger Marketingmätzchen, nicht schon deswegen wahrer, weil sie mit düsteren Mienen immer neu wiedergekäut wird.

Wie gut oder schlecht der neue Roman ist, das wird nicht in Redaktionsbüros und TV-Studios entschieden und erst recht nicht von Kritikern, denen die Grundlage vom Lastwagen gefallen ist. Es wird sich am Text und dessen Kraft erweisen, das zu artikulieren, was die Gegenwart umtreibt, ohne dass sie bislang Worte und Bilder dafür gefunden hätte. Der Rezensentenbetrieb mag also zetern, raunen und loben, wie er will. Er mag die Transfersummen von Dichtern nach dem Vorbild von Fußballstars verdammen oder beklatschen. Die Wahrheit liegt bekanntlich auf dem Platz. Ab dem 1. September wird der neue Houellebecq in Frankreich zu lesen sein. In Deutschland bereits vom morgigen Mittwoch an.

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