Literaturkalender:Brücken zum Ich

Schriftsteller Thomas Kling bei einem Auftritt in der Literaturwerkstatt in Berlin

Der Dichter Thomas Kling bei einem Auftritt in der Literaturwerkstatt in Berlin, 1993. Im Juni des kommenden Jahres wäre er sechzig geworden.

(Foto: Schleyer/Ullstein Bild)

Die Literatur ist immer mit der Zeit im Bunde. Das macht einen Literaturkalender zur selbstverständlichsten Sache fürs neue Jahr. Zum Beispiel den des Arche-Verlags.

Von Volker Breidecker

"Die Zeit ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie", sagt die Marschallin Fürstin Werdenberg in Hofmannsthals Komödie "Der Rosenkavalier" zu Octavian, ihrem jugendlichen Liebhaber. Dem Dahinfließen der Zeit und der Vergänglichkeit aller menschlichen Beziehungen begegnet sie damit, dass sie mitten in der Nacht aufsteht, um die Uhren im Haus anzuhalten. Ein ähnliches Gefühl mag am letzten Tag des Jahres die letzte Minute vor Mitternacht vermitteln, folgt man ihrer spürbar langen Dauer einmal ganz bewusst, Sekunde für Sekunde. Aber auch dies ist schon bloßes Nachspüren, wie es der Roman "Das Herz ist ein einsamer Jäger" der vor bald hundert Jahren, am 19. Februar 1917 geborenen amerikanischen Schriftstellerin Carson McCullers in die Worte fasst: "Hier sind wir - genau jetzt, in dieser Minute: aber während ich das sage, ist sie schon vorbei und kommt nie wieder - nie, nie wieder."

Was Kalendarien - ihrer lateinischen Wortbedeutung nach sind sie Schuldbücher, die die Fälligkeit von Zinszahlungen anzeigen - in numerischer Abstraktion registrieren, darüber wurde vielleicht nirgendwo tiefsinniger nachgedacht als in der Literatur, die wie neben ihr nur die Tanzkunst von Haus aus mit der Zeit im Bunde ist. Im "Arche Literatur Kalender", der seit über drei Jahrzehnten unter einem jährlich wechselnden Thema auf wohlgestalteten Wochenblättern als an die Wand zu hängender Buchblock erscheint, ist das Bündnis von Zeit und Literatur geradezu ikonisch geworden: Jedes Kalenderblatt zeigt bedeutende - auch vergessene - Autoren, die in der jeweiligen Woche geboren oder gestorben sind, in raren fotografischen Aufnahmen, flankiert von Zitaten aus ihren Werken, Tagebüchern, Briefen.

Anno 2017, in dem es zumal von kalendarisch angezeigten runden Jubiläen nur so wimmelt, lautet das Motto "Von Nähe und Ferne" (Arche Verlag Zürich und Hamburg, 22 Euro). Darunter fallen Momente des Haltens und Lassens, des Kommens und Gehens, des Verbindens und Trennens, des Zusammen- und Fortgehens, des Abschieds und der Wiederkehr, aber auch Erfahrungen des Umherwanderns und Reisens oder von Flucht und Exil. Grundsätzlich gilt, was Günter Grass in der Laudatio auf seinen türkischen Kollegen Yasar Kemal, den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels von 1997, sagte: "Die Literatur hebt Entfernungen auf ... Sie hebt auf Landkarten gezogene, aber auch unser Bewusstsein schneidende Grenzen auf. Die Literatur schlägt die Brücke zum anderen, zum fremdgegangenen Ich. Sie verkuppelt uns." Auch wenn es dann am Ende so ausgehen könnte wie in den mit "Ostfriesische Romanze" überschriebenen Versen von Robert Gernhardt, der im Dezember 2017 achtzig Jahres alt geworden wäre: "Zwei Wochen lang wird sehr geflennt / Dann hat man sich in Leer getrennt."

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