Literaturfest:Jetzt mal ehrlich

Zwei Symposien über Wahrheit und Lüge

Von Sabine Reithmaier

Was ist Lüge, was Wahrheit? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen treibt viele um. Jedenfalls drängten sich die Zuhörer in den beiden Literaturfest-Symposien, die sich mit dem Thema beschäftigten. Auch wenn es auf viele Fragen erwartungsgemäß keine eindeutigen Antworten gab, so wurde doch eines klar: Der Mensch liebt gute Geschichten.

Das machten schon die Pecha-Kucha-Präsentationen deutlich, Neuland für die meisten Referenten. Das Format gewährte ihnen 40 Sekunden Redezeit für jede der zehn eingeblendeten Folien. Das zwingt nicht nur zur Reduktion aufs Wesentliche, sondern auch dazu, anhand der Bilder eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Und weil der Mensch ein "homo narrans" ist, wie der Biologe Werner Siefer im zweiten Teil des Symposiums feststellte, funktionierte das sehr gut. Jeder Einzelne rechtfertige, ob im inneren Monolog oder vor anderen, sein Tun unentwegt mit Erzählungen, sagte Siever. Welchen Wahrheitsgehalt diese Konstruktionen haben, ist zweifelhaft. Schließlich speichert das Gehirn jedes Mal, wenn wir uns in einer bestimmten Situation an etwas Früheres erinnern, das Erinnerte neu ab, überschreibt das alte. Das Gedächtnis bestimme daher unsere Wahrnehmung der Zukunft, erläuterte der Neurobiologe Martin Korte.

"Wir müssen uns eben Dinge passend machen", fand Monika Betzler, Professorin für praktische Philosophie an der LMU. Der Mensch als Wesen, das Vergangenheit und Zukunft hat, besitze die Fähigkeit zur Kohärenz. Aber das Bemühen, sich alles zusammenhängend zu erklären, biete auch viel Raum, um sich manches schön zu reden. Um nicht in Lebenslügen zu enden, sei es besser, anzuerkennen, dass es Dinge gibt, die sich unserer Kontrolle entziehen, und diese Spannung auszuhalten. Oder wie die Zen-Meisterin Beate Genko Stoltes empfahl, den Alltag der Selbstbezogenheit zu verlassen und an Orten der Stille nach heiterer Gelassenheit zu streben.

Was aber, wenn das menschliche Bedürfnis, nach nichtexistenten Zusammenhängen zu suchen, so groß ist, dass Geschichten einfach umgebogen werden? Mit Fake News und Verschwörungstheorien beschäftigte sich der erste Teil des Symposiums im Literaturhaus. Der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit wählte für seine Präsentation jenen Comic Robert Crumbs, den dieser Pionier der Underground-Comics 1993 für die Anthologie "Weirdo" gezeichnet hatte, eine ziemlich makabre Vision einer Machtübernahme der USA durch Schwarze und Juden. Crumb lässt darin kein rassistisches Klischee aus. Theweleit verschärfte die Bilder durch seine Erzählung und endete mit dem Satz: "Nun wissen Sie die Wahrheit. Aber wahrscheinlich wussten Sie die vorher schon." Die Provokation fiel ins Leere, eine Diskussion, inwieweit rassistische Klischees im kollektiven Unterbewusstsein verankert sind, blieb aus.

Einig war sich die Runde, dass Anhänger von Verschwörungstheorien durch Fakten nicht zu beirren seien. "Wenn man sie mit plausiblen Argumenten konfrontiert, glauben sie hinterher noch stärker an ihre Theorie", sagte Michael Butter, der ein europäisches Forschungsprojekt über Verschwörungstheorien leitet. Zweifel würden ihre Identität gefährden. Das mache es so schwierig, fruchtbare Diskussionen mit ihnen zu führen. Keine Lösung sei es, mit diesen Menschen nicht zu reden.

Alltag ist die Verkehrung von Fakten für Kai Strittmatter, SZ-Korrespondent in China. Es gehe nicht um Überzeugung, sondern bezweckt werde Einschüchterung, sagte Strittmatter und berichtete vom "Amt der Ehrlichkeit", das derzeitig noch im Modellversuch über das moralische Verhalten der Bürger wacht und Punkte vergibt. Offizielles Ziel der Regierung sei es, den ehrlichen Menschen zu schaffen. Doch letztlich gehe es nur um soziale Kontrolle. Die Begriffe verwandelten sich in ihr Gegenteil.

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