Literatur:Wolf Biermanns Autobiografie müsste eigentlich "Ich Ich Ich!!!" heißen

Wolf Biermann

Am 13. November 1976 gibt Wolf Biermann in der Kölner Sporthalle sein erstes bundesdeutsches Konzert seit Ostern 1965. Da ahnt er noch nichts von seiner Ausbürgerung.

(Foto: Hans Bertram/dpa)

In seiner Autobiografie entsorgt der Liedermacher kühl so manche Weggefährten, Freunde und eigene Parolen von einst.

Buchkritik von Willi Winkler

Schade eigentlich, dass er bereits von Robert Gernhardt genutzt wurde, denn der einzig angemessene Titel für Wolf Biermanns Autobiografie wäre "Ich Ich Ich!", bewehrt allerdings mit mindestens drei Ausrufezeichen. So heißt sie nach einem Biermann-Lied bescheiden "Warte nicht auf bessre Zeiten!" und erzählt davon, wie schlecht sie waren - für ihn und für Deutschland, also für ihn. "Die große Weltgeschichte", kleiner geht's einfach nicht, "ist für mich eben Familiengeschichte. Den Kommunismus soff ich mit der Muttermilch. Karl Marxens Utopie war mein Vaterblut. Und das bewährte sich als mein Lebenselixier im Streit mit der DDR-Diktatur. Meine Waffen in diesem Streit waren der Bleistift und die WeißgerberGitarre."

Das ist der ganze vollsaftige Biermann, bis an die Zähne bewaffnet mit Dröhnprosa, bestes kommunistisches Erbe, aber manchmal stimmt es sogar.

Die Weltgeschichte beginnt im Hamburger Hafen, wo der Kommunist Dagobert Biermann den Nachschub für die Legion Condor in Spanien sabotiert. Keine fünf Monate ist Wolf Biermann alt, da wird ihm der Vater genommen. Neun Monate wird Dagobert im Gefängnis Fuhlsbüttel angekettet, damit er rede und seine Genossen verrate. Die Mutter nährt den Sohn im Gestapo-Verhör und lässt ihn die ersten Schritte vor dem eingesperrten Vater machen, der dann als Jude nach Auschwitz abtransportiert wird. Am 22. Februar 1943 stirbt er in "Auschwitz, Kasernengasse", am gleichen Tag wie in München die Geschwister Scholl und Christoph Probst. Die Sterbeurkunde - der Sohn nennt es einen "absurden Witz aus dem Holocaust" - ist mit dem Wort "Gebührenfrei" gestempelt. "Sechseinhalb Jahre war ich damals. Und so alt blieb ich mein Leben lang."

Bei schlechten Noten schwang die Mutter die "Auschwitzkeule"

Das Kind überlebt 1943 die Verwüstung Hamburgs in der "Operation Gomorrha" durch die englische Luftwaffe, überlebt den Krieg und lebt fortan mit dem Auftrag, das unvollendete Lebenswerk des Vaters fortzusetzen, wie später immer wieder im "Großen Gebet der alten Kommunistin Oma Meume in Hamburg" skandiert: "O Gott, lass Du den Kommunismus siegen!"

Es sei das Gesetz, nach dem er angetreten, wie sich der Autobiograf bereits auf der ersten Seite beim alten Kommunisten Goethe rückversichert. "So muss ich sein, so bleibe ich", trällert er weiter, nennt sich "trauriges Glückskind in Deutschland", und weil das längst nicht genügt auch noch ein "greises Weltenkind". Schon als sehr junger Pionier durfte er von Hamburg in die DDR und sie als "Grundlage für ein schöneres, besseres Leben" preisen.

Die Popper-Frisur, mit der er sich im Bildteil zeigt, hätte ihm Jahrzehnte später bei seinen Hanseaten alle Ehre eingetragen, 1950 aber war er das einzige Arbeiter- und Kommunistenkind in der Klasse. Bei den schlechten Noten schwang seine Mutter gleich die "Auschwitzkeule": "Dafür ist dein Vater in Auschwitz gestorben, dass du jetzt eine Fünf in Mathe hast!" Das ist bester Philip Roth, zumal Biermann, wie er zugibt, die Keule selber gern einsetzt.

Mitte Mai 1953 wechselt der 16-Jährige endgültig in die Ostzone. Als OdF, als "Opfer des Faschismus", avanciert er zum kleinen Prinzen im besseren Leben und bekommt deshalb auch so gut wie nichts mit vom Arbeiteraufstand am 17. Juni, vom XX. Parteitag der KPdSU 1956, vom Tod Brechts im selben Jahr. "Gedopt mit kämpferischen Phrasen", versucht er sich als sein Nachfolger, fabriziert also Agitprop schlimmster Sorte für LPGs, gegen den Militarismus im Westen, für die NVA im Osten und immer für die Partei, in die der Heimat- und Vaterlose unbedingt aufgenommen werden will.

Seine erste Frau rettet ihn - "Ohne sie hätte ich wohl kein einziges Gedicht geschrieben". Brigitte will den deutschen Wolf als villonesken Franzosen, denkt sich deshalb einen Schnurrbart für ihn aus und färbt, was er vorweisen kann, mit Spezialpaste schwarz. Dann wird wieder Weltpolitik gemacht, der kleine Wolf als idealistischer Mauerhelfer selbstverständlich dabei, denn der Bau der Mauer war auch für ihn "Rettung in höchster Not". Hanns Eisler, der Komponist der DDR-Hymne, lädt ihn ein, Stephan Hermlin fördert ihn. "Ich hatte als junger Dichter Blut geleckt, wollte berühmt werden."

Seine alte Freundin Margot Honecker lockt damit, dass er der größte Dichter werden könne

Er wird es. Bei Klaus Wagenbach im Westen erscheint seine "Drahtharfe". Seinem Verleger trägt sie das Einreiseverbot in die DDR ein, im Osten wird aus dem Hätschel- das Sorgenkind der Partei. Seine alte Freundin Margot Honecker besucht ihn, lockt damit, dass er der größte Dichter werden könne, aber "wenn du weiter den falschen Weg gehst, werden wir Feinde". Sie werden es, der Widerborst erhält Auftrittsverbot, der Dichter soll schweigen.

Seit Ende 1965 ist er in seiner Wohnung in der Chausseestraße eingesperrt. Draußen steht gut sichtbar ein Auto der Stasi, drin ist alles verwanzt. Die Stasi sorgt sich um ihn und für Frauen, die "mit mir sich hinlegten". Selbst für den Nacktbadestrand auf Usedom wird ein Mitarbeiter abgestellt. Siebzig und am Ende zweihundert Zuträger berichten auf hunderttausend Blättern alles über den vom Königskind zum Staatsfeind gereiften Biermann.

Weltbekannt wird der Eingeschlossene, die Chausseestraße ein Wallfahrtsziel. Joan Baez und Allen Ginsberg besuchen ihn, er singt von den besseren Zeiten, die vielleicht nie kommen, von der Mauer, von der Stasi, von sich und für alle: "Du, lass dich nicht verhärten / in dieser harten Zeit".

Die Gabe der späten Nachsicht teilt Wolf Biermann nur an Wolf Biermann aus

1976, nach fast elf Jahren Klausur, werfen ihn seine Genossen aus dem besseren Deutschland. Er darf im Westen auftreten und nicht mehr zurück. Noch weiß er nichts davon, als er in Köln seine Ballade "Und als wir ans Ufer kamen" vorträgt: "Ich möchte am liebsten weg sein und bleibe am liebsten hier." In der Aufzeichnung setzt er hinzu: "Hier ist natürlich nicht hier", worauf Beifall aufbraust. Wieder wird der Sänger gehätschelt, diesmal als westeigener Regimekritiker von Atomkraft, Polizeistaat, Strauß und überhaupt allem. Propaganda. Aber wenn er einst fragte "Was wird bloß aus unsern Träumen / In diesem zerrissenen Land" konnte er besser sein als Meister Brecht mit seinem totgefahrenen "Radwechsel".

Köln ist im November vierzig Jahre her, sein halbes Leben. Die DDR schleppte sich noch 13 Jahre hin. Die Ausbürgerung Biermanns brachte sie dem Ende näher, die Solidarisierung mit ihm, dem ehemaligen Wunderknaben des ehemals besseren Deutschlands, nahm ihr den moralischen Kredit, der auch mit den von Strauß und Kohl zugeschossenen Milliarden nicht mehr auszugleichen war.

Der endlich Freigelassene trat in Frankreich auf, in Italien und in Spanien. Dort war die Franco-Diktatur eben an Alterssklerose sanft entschlafen, und der begeisterte Biermann, der es nur bis zum Kandidaten der SED gebracht hatte, ließ sich unter der Nummer 042477 in die spanische Partido Comunista de España aufnehmen, auch das eine Vaterpflicht, auch wenn er das Detail vergisst. Der Biograf des eigenen Lebens darf sich erinnern, an was und wen er will, es sollte nur stimmen. Dass er bereits mit 13 als Held gegen die Einheitspartei aufgetreten sein will, bei der er doch unbedingt mitmachen wollte, und mit 16 einem Anwerbeversuch der Stasi widerstand - warum nicht.

War er überhaupt je politisch?

Doch die Gabe der späten Nachsicht teilt Wolf Biermann nur an Wolf Biermann aus, für fast alle anderen bleibt die zensurierende Rachsucht des Rechthabers. Es trifft dann nicht nur die Greise im Politbüro der SED, sondern auch Rudi Dutschke, dem er einst ein rührendes Totenlied sang. Übrig bleibt die "linksradikal-verlotterte WG des Berufsrebellen Rudi Dutschke und seiner amerikanischen Frau Gretchen", die Biermann nach allem Ermessen gar nie gesehen hat. Die WG war eine ganz normale Wohnung in Westberlin, bezogen mithilfe eines Ehestandsdarlehens vom Senat.

Es geht noch schäbiger: Bei Wagenbach, durch dessen Verlag der Autor und Liedermacher mit Kurier- und Schmuggeldiensten überhaupt am Leben erhalten wurde, wollte er dann nicht mehr sein. Er suche, erklärte Biermann vor Westberliner Richtern, einen "weniger politischen Verlag".

War er überhaupt je politisch? Ein vages "man" hat dem Verleger Axel Springer ein "Presse- und Meinungsmonopol" vorgeworfen, schreibt Biermann als sein eigener Umschreiber und lieber nichts von seinem berühmtesten Lied, den "Drei Kugeln auf Rudi Dutschke" und der Strophe: "Die Kugel Nummer Eins kam / Aus Springers Zeitungswald / Ihr habt dem Mann die Groschen / Auch noch dafür bezahlt / Ach Deutschland, deine Mörder!"

Noch 1977, bei der glorreichen Bild- und Welt-Hetze auf die angeblichen Sympathisanten des Terrorismus, nennt er Axel Springer einen "Meinungs-Terroristen", aber das ist 2016 Propaganda von gestern, denn Biermann durfte in der Zwischenzeit als politischer Korrespondent der Welt amtieren.

Trotzdem fallen in dieser Rechthaberei einige hübsche Anekdoten ab. So wenn er erzählt, wie er bei Günter Grass ein rohes Ei ganz und gar verspeisen muss und im Schnauzbartmessen dem anderen eigelbstark unterliegt. Oder wie er von dem in seiner ganz Intriganz nie ganz gewürdigten Marcel Reich-Ranicki eingespannt wird, um im Spiegel die Arbeit des Literaturkritikers für den polnischen Geheimdienst herunterzuspielen. Oder wie er zu Helmut Schmidt bestellt wird, der ihm, dem lautesten Opfer einer Parteidiktatur, in staatsmännischer Seelenruhe auseinandersetzt, wie gut und richtig die Diktatur der Partei für die Volksrepublik China sei. "Ernähren Sie mal jeden Tag eineinhalb Milliarden Menschen!"

Unter Goethe geht's nicht

Er wollte, versteht man ja, kein Kind mehr sein, sondern endlich erwachsen werden und wurde, das ist Dialektik, erst recht eins: "Wer schlägt schon seinen totgeschlagenen Vater tot!" Genau das konnte er im Herbst 1989, als er endlich die ganze bereits erledigte DDR und ihre Nomenklatura wieder und wieder niedersingen durfte und so um Jahrzehnte verspätet den Vatermord nachholte. In der Erinnerung schreitet er generalsmäßig die Kirchenväter und -mütter ab von Étienne Cabet, Marx, Engels, Rosa Luxemburg bis zu den "mörderischen Kommunisten" Stalin, Ulbricht und Mielke und weiß es jetzt: "Der Marsch ins Paradies der kommunistischen Endlösung zwingt sie alle in die totalitäre Diktatur." Da droht sie wieder, die Auschwitzkeule.

Mit fast achtzig findet das Kind noch immer keine Ruhe. "Diese heillose Wunde blieb lebenslänglich offen, denn ich kann diesem frühen Tod nicht entfliehen (. . .) Es ist das Gesetz, nach dem ich angetreten bin."

Unter Goethe geht's halt nicht, auch wenn Biermanns Urworte statt Orpheus eher der gnadenlosen Selbstfeier verpflichtet sind. Goethe ist er nicht ganz, aber manchmal doch so gut wie der alte Biermann, manchmal sogar wie der junge.

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