Literatur:Wichtige Bücher für düstere Zeiten

Applaus

Düstere Zeiten für die Demokratie.

(Foto: plainpicture/Andreas Suess)

Trump, Erdoğan, Le Pen: Populisten bedrohen die Demokratie. Wie konnte es soweit kommen? Eine Leseliste von Philip Roth bis Platon.

Platon: "Gorgias"

In seinem "Gorgias" taucht zum ersten Mal in der Geschichte das Wort "Rhetorik" auf. Und dieser philosophische Dialog ist auch gleich schon die erste prinzipielle Auseinandersetzung mit den Risiken demokratischer Kommunikation. Platon war da ein gebranntes Kind: Sein Lehrer Sokrates war gut zehn Jahre, bevor der "Gorgias" geschrieben wurde, im Jahr 399 vor Christus, zum Tod verurteilt worden. Und zwar durch Mehrheitsbeschluss des Volkes. Grund für die Hinrichtung waren sehr dehnbare Tatbestände gewesen: Missachtung der Religion und zersetzende Wirkung auf die Jugend von Athen. Daher bekommt Sokrates, vor dessen Tod das Gespräch spielt, im "Gorgias" die prophetischen Worte in den Mund gelegt: "Wenn ich aber wegen Mangel an schmeichlerischer Redekunst sterben müsste ..."

Genau dies, dass die politische Rhetorik nichts als unsachliche "Schmeichelei" sei, ist denn auch der Vorwurf an die Wahlkampfmanager und PR-Coaches seiner Zeit, die Sophisten. Einer davon ist der titelgebende Gorgias. Noch viel schlimmer ist einer seiner Sympathisanten namens Kallikles, der skrupellos das Recht des Stärkeren vertritt. Dies rechtfertige jegliche demagogischen, populistischen Tricks. Sokrates kontert: Solche Politiker "behandeln ihres eigenen Vorteils wegen, den gemeinsamen vernachlässigend, das versammelte Volk wie Kinder." Klingt vertraut? Seither versucht man die Rhetorik, die jede Demokratie braucht, den Bösen als Waffe zu entreißen. Darum muss man sie studieren, jetzt erst recht.

Johann Schloemann

Platon: Gorgias. Griechisch/deutsch. Übersetzt und hrsg. von M. Erler und Th. Kobusch. Reclam Verlag, 342 Seiten, 9,80 Euro. Den Originaltext und die Übersetzung von Friedrich Schleiermacher gibt es auch gemeinfrei im Internet.

Eugène Ionesco: "Die Nashörner"

Die Bevölkerung einer kleinen, zivilisierten Stadt verwandelt sich Schritt für Schritt in eine Rotte von schnaubenden Nashörnern. Gerade die ordentlichsten Mitbürger sind als erste dabei. Das Stück "Die Nashörner" wurde 1959 in Düsseldorf in einer deutschen Verhältnissen angepassten Version uraufgeführt, noch vor dem französischen Original. Der Erfolg war enorm, bald avancierte es zur beliebten Schullektüre: Drama des Absurden! Es handle, so wurde uns beigebracht, von "Herdentrieb und Konformismus" in einer Diktatur. Das ist nicht falsch, verharmlost das Drama aber. Denn eigentlich zeigt es, wie eine bürgerliche Gesellschaft Stück für Stück ihr Wutlevel anhebt, also das, was Peter Sloterdijk und sein der AfD zuarbeitender Schüler Marc Jongen den "thymotischen Zustand" nennen.

"Ich koche innerlich", brüllt eines der Nashörner. Dazu kommt der Übertritt in eine eigene Wahrheitssphäre. Die Presse, die über die Tiere berichten will, wird delegitimiert: "Alle Journalisten sind Lügner." Wer die verwandelten Mitbürger als "Saupack" bezeichnet, muss sich zurechtweisen lassen: "So spricht man nicht zu Lebewesen." Man hat genug von Moral und Gutmenschentum: "Das Humane ist überholt." Vielleicht haben die Wutbürger einen Grund? Man sollte "mit ihnen sprechen", "man muss immer versuchen zu verstehen", heißt es. Wut und moralischer Relativismus gehen eine giftige Verbindung ein. Mit dem begriffslos schnaubenden Hass bricht die gesellschaftliche Kommunikation zusammen, und das ist viel, viel gruseliger als die Frage nach dem Konformismus.

Gustav Seibt

Eugène Ionesco: Die Nashörner. Aus dem Französischen von Clemens Bremer und H. R. Stauffacher. Fischer Taschenbuch, 112 S., 7,99 Euro.

Mary Shelley: "Frankenstein"

Nicht mal eines Namens wurde das Geschöpf für würdig befunden, immer heißt es nur die Kreatur oder das Monster, Frankensteins Monster. Der Doktor Viktor Frankenstein hatte einen perfekten künstlichen Menschen schaffen wollen, aber was bei seinem Experiment herauskam, war so abschreckend, dass es nirgends zugehörig sein durfte. Der absolute Outsider.

Wenn er in ein Dorf kam, fielen die Frauen in Ohnmacht, Steine wurden geschleudert. Das naive und empfindsame Monster floh aufs Land und erklärte der menschlichen Spezies den Krieg. Mary Shelleys "Frankenstein", erschienen 1818, ist ein revolutionäres Buch, das von Identität und Freiheit handelt. Zur Kultfigur wurde das Monster 1931 durch den Film von James Whale - der als Schwuler ums Außenseiterdasein wusste. Da fingen die Menschen an, sich ihrer eigenen Monstrosität bewusst zu werden. Und etwas wie sympathy for the monster zu empfinden.

Fritz Göttler

Mary Shelley: Frankenstein. dtv, 304 Seiten, 8,90 Euro.

Margaret Atwood: "Der Report der Magd"

Die Inspiration für Margaret Atwoods "Der Report der Magd" lag hinter der Berliner Mauer. Ihre Erfahrungen in Ostberlin 1984 brachten sie darauf, sich mit einem totalitären Staat auseinanderzusetzen, der ursprünglich ein Utopia hatte werden sollen. Sie erzählt die Geschichte der Magd Desfred. Sie soll für ihren Herrn, einen Kommandanten, ein Kind bekommen. Die Magd, die gebären soll,ist ein alttestamentarisches Motiv, und es kommt hier nicht von Ungefähr: In dem Amerika, in dem Desfred lebt, hat eine christlich-fundamentale Gruppe die Macht übernommen. Ihre Republik Gileas ist ein totalitärer Staat, in dem die Menschenrechte außer Kraft gesetzt sind. Frauen dürfen nichts besitzen und nichts entscheiden.

"Ich hatte einfache Regeln für dieses Buch", schrieb Atwood später, "Ich wollte nichts hineinpacken, was Menschen nicht irgendwann und irgendwo schon mal getan haben und nichts, für was sie nicht längst die Werkzeuge besitzen." "Der Report der Magd" handelt von der Zerbrechlichkeit der Zivilisation und davon, wie Fortschritt und Regression im Wechsel die Oberhand gewinnen.

Susan Vahabzadeh

Margaret Atwood: Der Report der Magd. Piper Verlag, 400 Seiten, 11 Euro.

Sinclair Lewis: "It Can't Happen Here"

Faschismus, das ist erst einmal nur ein Wort, beruhigt der Publizist Doremus Jessup sich selbst. Eine Rückkehr zur amerikanischen "Grundidentität", die der gerade ins Weiße Haus gewählte Berzelius Windrip propagiert, könnte dem Land durchaus guttun, denn die liberalen Gedanken der Gründungsväter stärken ja die Demokratie und schmettern jeden autoritären Gestus ab. Es wird hier in den USA im Jahr 1936 also nicht gleich so schlimm kommen wie drüben in Italien und Deutschland.

Doremus irrt. Kaum ist Windrip im Amt, redet keiner mehr von Freiheiten. In Washington übernimmt eine autoritäre Führung das Zepter, die Frauen, Minderheiten und Andersdenkende zugunsten der Formung eines homogenen Nationalcharakters unterdrückt. Der Wahlkampf zu Beginn des Romans "It Can't Happen Here" ließ das schon vermuten und wirkt heute seltsam vertraut, da dieser Windrip, den Sinclair Lewis vor acht Jahrzehnten erfand, in der Gestalt Donald Trumps nun tatsächlich über die Amerikaner gekommen ist. Ein politisch unerfahrener Charismatiker mit Verachtung für alle "Büchereliten". Doremus muss da bald abtauchen.

Die Ähnlichkeit von Windrip und Trump geht so weit, dass beide mit einem Buch ihren eigenen Mythos begründet haben, sich von einem windigen Medienmann beraten lassen und mehr Militär für mehr Frieden fordern. Dass all das in die Katastrophe führen kann, lacht die Bevölkerung im Roman weg: Das ist bei uns nicht möglich! Und Lewis, dessen sarkastische Sprache verrät, dass ihn solche Einfältigkeit gruselt, scheint ihnen und uns zuzurufen: Seid euch da nicht so sicher.

Jonathan Horstmann

Sinclair Lewis: It Can't Happen Here. Signet Classics, New York 1935. 416 Seiten, 9,99 Euro.

Ralph Ellison: "Der unsichtbare Mann"

Als Ralph Ellison 1952 "Der unsichtbare Mann" veröffentlichte, wirkte sein Roman wie ein Stromstoß. Ellison hatte die Geschichte des schwarzen Amerika auf eine einzelne, namenlose Figur verdichtet. Der Held zieht aus dem amerikanischen Süden nach Harlem, die heimliche Hauptstadt des schwarzen Amerika im Norden von Manhattan. Er schließt sich dort den Kommunisten an, verzweifelt und verbittert schließlich am Kampf um eine eigene Identität. Denn er ist und bleibt ein Unsichtbarer, dessen Identität hinter seiner Hautfarbe verschwindet.

Ellisons Roman gilt bis heute als Schlüsselroman der amerikanischen Gesellschaft. Barack Obama nahm sich das Buch zum Vorbild, als er seine Autobiografie "Ein amerikanischer Traum" schrieb. Das Gefühl, unsichtbar zu sein, nicht dazuzugehören, ist im schwarzen Amerika bis heute verbreitet. Und nicht nur dort. Die Verzweiflung über die Rollen, welche die Gesellschaft für die meisten parat hält, zieht sich durch so viele Schichten und Gruppen, dass man die Parabel längst übertragen kann. Mit ein wenig Fantasie auch nach Europa.

Andrian Kreye

Ralph Ellison: Der unsichtbare Mann. Rowohlt. 627 Seiten, nur antiquarisch.

Konfuse Welt

Philip Roth: "Verschwörung gegen Amerika"

Was wäre, wenn bei der Wahl zum US-Präsidenten 1940 nicht Wendell Willkie für die Republikaner gegen Franklin D. Roosevelt angetreten wäre, sondern Charles Lindbergh, der mit seinem Nonstopflug von New York nach Paris weltberühmt geworden war? Und was wäre, wenn Lindbergh mit einer Kampagne, die Roosevelt zum Kriegstreiber stilisiert und mit dem Antisemitismus kokettiert, die Wahl gewonnen hätte? Philip Roths "Verschwörung gegen Amerika" mischt Autobiografie und Gedankenexperiment. Roth erzählt von einer vertrauten Welt, in der das Undenkbare Wirklichkeit wird: Die Stimmung gegen die Juden kippt, Umsiedlungen werden gestartet, auf einen Oppositionspolitiker wird ein Attentat verübt.

Der Roman spannt ein politisches Panorama über den Atlantik und den amerikanischen Kontinent, doch der eigentliche Schrecken lauert im Haus der Familie Roth. Ein Cousin hatte sich freiwillig zur kanadischen Armee gemeldet und kommt aus dem Krieg in Europa, aus dem sich die USA unter Lindbergh heraushalten, ohne sein Bein zurück. Vor dem Stumpf fürchtet und ekelt sich Philip so sehr, dass ein Riss sogar durch die Familie möglich scheint. Roths Roman ist eine Studie der Angst, des diffusen Unsicherheitsgefühls, das sich die Populisten schamlos zu Nutzen machen und das sie selbst auslösen, um ihre Herrschaft zu sichern.

Dem Roman ist übrigens ein Anhang mit der Zusammenfassung der realen historischen Ereignissen nachgestellt. Der Verlag hatte befürchtet, zu viele Leser könnten den überraschenden Aufstieg eines faschistischen Populisten als Tatsachenbericht lesen.

Nicolas Freund

Philip Roth: Verschwörung gegen Amerika. Rowohlt. 544 Seiten. 9,99 Euro.

Umberto Eco: "Urfaschismus"

Der Faschismusvorwurf wird momentan inflationär gebraucht. Aber ist Trump ein Faschist? Le Pen? Putin? Und was macht echten Faschismus überhaupt aus, schließlich "verfügte der Faschismus über keine Quintessenz, er war ein verschwommener Totalitarismus, eine Collage aus philosophisch-politischen Gedanken, ein Bienenkorb an Widersprüchen". Die Rede ist vom italienischen Faschismus mussolinischer Prägung, der Satz gilt aber, was den widersprüchlichen Eklektizismus angeht, für all seine Spielarten.

Weshalb Umberto Eco in seiner brillanten Rede "Urfaschismus" von 1995 versucht hat, eine Art Kern freizulegen, Strukturähnlichkeiten herauszuarbeiten. 14 Punkte hat er gefunden, einige davon klingen wie ein Destillat aus aktuellen Analysen: "Der Urfaschismus entstand aus individueller oder sozialer Frustration. Deshalb gehört zu den typischen Merkmalen der Appell an eine frustrierte Mittelklasse, die unter einer ökonomischen Krise oder der Empfindung politischer Demütigung litt." Weitere Merkmale: Irrationalismus, gepaart mit der "Kultur der Aktion um der Aktion willen", um das Volk bei Laune zu halten; der äußere Feind oder Eindringling, weshalb der Faschismus immer ein rassistisches Element beinhaltet; die Obsession einer - meist internationalen - Verschwörung, die ein Belagerungsgefühl erzeugt; das Volk als "theatralische Fiktion", es dient schließlich nur noch als Akklamationskulisse. Der Text wirkt aufgrund seiner Verknappung und Dialektik wie ein Hochspannungsfeld. Trump, Le Pen und Putin erfüllen mit ihrem Führungsstil oder ihrer Rhetorik übrigens die meisten der 14 Punkte.

Alex Rühle

Umberto Eco: Urfaschismus. Der Text ist zu finden auf Zeit.de

Jewgenij Samjatin: "Wir"

Viele Autoren des 20. Jahrhunderts haben beschrieben, was der Endpunkt aller Fantasien vom mächtigen Kollektiv und vom guten Diktator sein könnte, von der Pervertierung der Sprache und dem Hass auf den inneren Feind. Jewgenij Samjatin ging ihnen allen voran. 1920 - der Bolschewismus war mehr Aufsteiger als Zwangsstaat, der Faschismus ein Grollen am Horizont - erschien sein Roman "Wir". Samjatin, selbst ein enttäuschter Bolschewik, entwarf eine mathematisch formatierte Wohlfühl-Diktatur, den "Einigen Staat", in dem die Menschen Nummern statt Namen haben, und ihr Tagesablauf auf die Minute geregelt ist. Beherrscht werden die Nummern von einem grausam-majestätischen "Wohltäter".

Ausgehend von der Überlegung, dass es schon Adam und Eva versaut haben, die einst zwischen Freiheit ohne Glück oder Glück ohne Freiheit wählen konnten und sich falsch entschieden, schwärmt der Held des Buches, Ingenieur D-503, dass ihm etwas so Furcht Einflößendes wie der freie Willen erspart geblieben ist: "Wir sind vollkommen glückliche arithmetische Durchschnittsgrößen". Zufrieden lebt er in einer Wohnung mit gläsernen Wänden und arbeitet an der Weltraumrakete "Integral", die die Heilsmission des "Einigen Staates" ins All tragen soll.

Zur Entspannung flaniert er in Reih und Glied mit Hunderttausend anderen Nummern zu Marschmusik unter Abhör-Membranen. Sein Pech: Er verliebt sich, eine "Seele" bildet sich heran. Der Einige Staat reagiert umsichtig und ordnet an, dass den Nummern die Fantasie operativ entfernt wird. Die heutige Welt ist so unübersichtlich und konfus? Nun, diese Welt ist es nicht.

Sonja Zekri

Jewgenij Samjatin: Wir. Disadorno Edition, 216 Seiten, 34 Euro.

Upton Sinclair: "The Brass Check"

Eine Welle der Konterrevolution und Unfreiheit geht derzeit über die Welt hinweg, schrieb Romain Rolland 1919 an seinen "Mitbruder" Upton Sinclair nach Amerika. Und beglückwünschte ihn vorab zu seinem nächsten Buch, in dem er sich in die Höhle des Minotaurus gewagt habe. Der Minotaurus war die Presse. Als "The Brass Check. A Study of American Journalism" (1919) wenig später erschien, folgte dem Titel statt eines Mottos der Brief Rollands.

Sinclair war bekannt geworden, weil er sich schon einmal in eine Höhle gewagt hatte, in die Schlachthöfe von Chicago. Sein Roman "The Jungle" (1906), in dem er die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie attackierte, war ein Weltbestseller geworden. "The Brass Check" war die Fortsetzung, eine Enthüllung über die kapitalistische Presse: "Der Journalismus ist eines der Instrumente, mit denen die industrielle Autokratie ihre Kontrolle über die politische Demokratie ausübt." Unter dem Titel "Der Sündenlohn" erschien das Buch in Deutschland und wurde in der Weimarer Republik zu einem Longseller.

Der Populismus, heißt es, verdanke seinen Aufstieg der Instrumentalisierung des "Postfaktischen". Sinclairs Parole war: Fakten, Fakten, Fakten. Sie waren in seinen Büchern das, was in der New York Times nicht gedruckt wurde. Und Populismus war das, was in der Presse verächtlich gemacht wurde. Die 1891 gegründete "Populist Party", in der Farmer gegen das Kreditwesen und die Geldpolitik mobil machten, gab es 1919 schon nicht mehr. Aber "The Brass Check" würdigte die "Populists" des späten 19. Jahrhunderts und nahm ihre Rebellion in sich auf.

Lothar Müller

Upton Sinclair: The Brass Check, Cornell University Press, 458 Seiten, ca. 25 Euro.

Marie Jahoda u.a.: "Die Arbeitslosen von Marienthal"

Die soziologische Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal", erstmals 1933 erschienen, wird immer wieder angeführt, um zu erklären, warum nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland so viele rechtsradikale Gruppen entstanden sind. Es hilft auch zu verstehen, warum im amerikanischen Rust Belt arbeitslos gewordene Fabrikarbeiter Donald Trump so anziehend fanden.

Die Soziologen beobachteten unter der Leitung von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld ein österreichisches Dorf, dessen Bewohner nahezu alle arbeitslos wurden, nachdem 1929 die örtliche Fabrik geschlossen worden war. Die Erkenntnis: Arbeitslose werden nicht zum zornigen revolutionären Subjekt, wie die Kommunisten sich das vorstellten. Stattdessen verbreiten sich Ermüdung und Resignation. Einige sind völlig gebrochen. Die Einwohner lassen ihre Kinder verwahrlosen. Sie hören auf, Bücher in der Bibliothek auszuleihen, obwohl sie so viel mehr Zeit dafür hätten. (Vereinzelt entstehen zugleich herzerwärmende Formen von Solidarität.)

Die Leute hören auf, sich politisch zu engagieren. Die Autoren der Marienthal-Studie vermuteten, "dass sich die sozialen Auseinandersetzungen auf ein tieferes Niveau gesenkt haben." Dass die NSDAP im Ort an Einfluss gewinnt, bemerkten die Soziologen gerade noch am Rande.

Lukas Latz

Marie Jahoda u.a.: Die Arbeitslosen von Marienthal. Suhrkamp Verlag, 148 Seiten, 9 Euro.

Die Sehnsucht nach dem starken Mann

Richard Hofstadter: "The Paranoid Style in American Politics"

Ein Mann, der Latinos als "Vergewaltiger" bezeichnet, der jede unangenehme Frage mit Tiraden über den IS ablenkt und verspricht, seine Kontrahentin einzusperren, habe, so dachte man, in einer aufgeklärten Welt keinen Platz. Trumps Wahlsieg hat das widerlegt. Liest man Richard Hofstadters 1964 erschienenen Essay "The Paranoid Style in American Politics", versteht man auch, warum. Was im Wahlkampf erschien wie bizarre Obsessionen eines Durchgeknallten, wie Provokationen, deren Opfer nur Trump selbst werden könne, folgt Schritt für Schritt einer traditionsreichen Form des politischen Diskurses: dem "paranoiden Stil".

Sein zentrales Motiv ist die Verschwörung. Die Nation, das Volk ist in höchster Gefahr. Nur äußerste Entschlossenheit, totale Vernichtung erlaubt es, den Kampf gegen den Feind zu gewinnen. Und der Paranoiker ist der Einzige, der wirklich verstanden hat, was auf dem Spiel steht. Wem die Rolle des Feindes zugewiesen wird, ist sekundär. Mal waren es die Katholiken, mal die Freimaurer, die Juden oder die Kommunisten, diesmal war es, wie so oft, die "Elite" und ihre tückische Anführerin Hillary Clinton. Dass auch Clinton selbst früher gerne von einer "riesigen rechten Verschwörung" sprach, belegt nur, wie richtig Hofstadter liegt.

Jörg Häntzschel

Richard Hofstadter: The Paranoid Style in American Politics. Die Magazin-Fassung des Texts ist unter www.harpers.org erhältlich.

Hannah Arendt: "Macht und Gewalt"

Trump hat nun die Macht? Ach was. Nicht, wenn man Hannah Arendts Studie "Macht und Gewalt" von 1970 folgt. Macht, schreibt die im Nationalsozialismus in die USA emigrierte Philosophin, wächst aus "der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln". Macht ist fluide, ein kommunikativer Prozess, nichts für Rechthaber, sondern eine ständige Debatte. Argumente müssen angstfrei ausgetauscht werden können; Menschen brauchen die Fähigkeit zum Versprechen und Verzeihen. Denn eine Gruppe kann nur gemeinsam handeln, wenn sie Absprachen trifft, die verbindlich sind, und wenn jeder dem anderen gegenüber nachsichtig sein kann. Trump ist bislang unzuverlässig, nachtragend, unfähig zum überzeugenden Argument, ein Kontrollfreak, kein Mann des Konsenses. Andersdenkenden zuzuhören fällt ihm schwer. So jemand könnte in Arendts Definition gar keine Autorität entwickeln, denn die entsteht erst im offenen Diskurs.

Etwas anderes ist das mit der Gewalt. Sie beruht auf Zwängen, auf Befehl und Gehorsam. Da wird nicht diskutiert, und wenn es schiefgeht, kann Macht auch in Gewalt umschlagen, etwa wenn eine gewählte Regierung Minderheitenrechte verletzt. Gewalt wiederum kann Macht vernichten, zum Beispiel im Putsch. Sie kann aber keine legitime Macht erzeugen, das können nur Menschen, die sich zusammenschließen. Sie können sich gemeinsam gegen Gewalt wehren und sie können, weil sie Menschen sind, jederzeit neu anfangen. Wenn nötig, auch in Amerika.

Kia Vahland

Hannah Arendt: Macht und Gewalt. Piper Verlag, 136 Seiten, 10 Euro.

Czesław Miłosz: "Verführtes Denken"

Was ist schlimmer als Intellektuelle? Feinsinnige Intellektuelle. Im Polen der Nachkriegszeit galten sie als "Fäulnis des Westens". Der Ausdruck könnte auch von Gauland oder Putin stammen. Wer "Verführtes Denken" liest, merkt, welche Parallelen es zwischen Weltanschauung und Rhetorik der neuen Autoritären und der alten Kommunisten gibt. Zu feinsinnige Intellektuelle wurden im Polen der Nachkriegszeit von den Kommunisten für die "Fäulnis des Westens" gehalten. Das könnte auch von Gauland oder Putin stammen.

Czesław Miłosz, 1980 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, zeigt in dem Essay, wie die Intellektuellen seiner Zeit für die autoritäre marxistische Ideologie empfänglich wurden. Im Zentrum des Buches stehen vier Autoren-Porträts, die exemplarisch Formen von Anpassung und Selbstzensur repräsentieren. Beeindruckend ist die menschenfreundliche Nachsicht, mit der Miłosz die "Verführten" zeichnet und ihr Denken dennoch scharf kritisiert.

Die Porträts helfen zu verstehen, was Menschen in die Arme der Autoritären treibt, etwa, wie er schreibt, ein "Bedürfnis nach brutalen Wahrheiten". Über Tadeusz Borowski, Auschwitz-Überlebender, großer Schriftsteller und als Journalist der Diktatur sehr ergeben, schreibt Miłosz: "Den Hass, wie er in ihm existierte, kann man mit einem Flusshochwasser vergleichen, das alles um den Fluss herum zerstört. Es schreitet nutzlos voran. Wie erleichternd muss es für ihn gewesen sein, als man ihm sagte, dass er diesen gewaltigen Fluss nur in die angeforderte Richtung lenken muss, sodass man damit eine Mühle betreiben könnte. Der Hass wird plötzlich nützlich, Hass im Dienste der Gesellschaft!" Kurz vor Erscheinen des Buches, 1951, beging Borowski Selbstmord.

Lukas Latz

Czesław Miłosz: Verführtes Denken. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1953. 238 Seiten, antiquarisch erhältlich.

Richard Rorty: "Stolz auf unser Land"

Vor, erst recht aber seit der Wahl von Donald Trump wird überall aus "Stolz auf unser Land" zitiert. Der 2007 gestorbene amerikanische neo-pragmatische Philosoph Richard Rorty hatte 1998 in dem Buch prophezeit, dass Linke und Liberale lieber Kulturpolitik als echte Politik machen würden, was zu einer "Flutwelle von Unmut" führen und genau den Hass zurückbringen werde, den die Linke eigentlich ausrotten wollte. Solange die Unterschicht, so Rorty, mit Hilfe der Medien "von ihrer eigenen Verzweiflung abgelenkt" werde, hätten die Reichen nichts zu befürchten. Sobald den Arbeitern aber klar werde, dass die Regierung nichts tue gegen ihre schrumpfenden Gehälter und die Abwanderung ihrer Jobs ins Ausland, sobald klar sei, dass ihnen auch die selber verunsicherte Mittelklasse nicht helfe, würde "etwas kaputt gehen". Viele würden zu dem Schluss kommen, dass "das System versagt habe" - und sich nach einem starken Mann umsehen. Einem, der ihnen verspräche, dass all die "blasierten Bürokraten, verschlagenen Anwälte, überbezahlten Investmentbanker und postmodernen Professoren" nichts mehr zu sagen haben werden.

Was so ein starker Mann tun werde, wenn er Präsident sei, könne niemand vorhersagen. Ziemlich wahrscheinlich sei es jedoch, dass Frauenverachtung, Intoleranz, Rassismus und Sadismus wiederkehrten. Am Ende werde der vermeintlich "starke Mann" jedoch nicht verhindern können, das sich die ökonomischen Rahmenbedingungen verschlechtern, weshalb er zügig mit der "Internationale der Superreichen" seinen Frieden machen werde.

Jens-Christian Rabe

Richard Rorty: Stolz auf unser Land. Suhrkamp Verlag (vergriffen). Zu finden in Bibliotheken oder Antiquariaten.

George Lakoff: "The Political Mind" / Jonathan Haidt: "The Righteous Mind"

Vernunft ist überschätzt, schreibt George Lakoff, der an der Uni Berkeley Sprache und Wahrnehmung erforscht. Er kommt natürlich nicht zu so einem stummelhaften Pauschalurteil im Twitterformat. Aber die Essenz seiner Forschungen steckt doch im Untertitel seines Buches "The Political Mind - Why you can't understand 21st-Century American Politics with an 18th-Century Brain" ("Der politische Geist - warum man die amerikanische Politik des 21. Jahrhunderts nicht mit einem Kopf des 18. Jahrhunderts verstehen kann").

Minutiös schlüsselt Lakoff auf, warum Argumente und Fakten, mit denen die Politik seit der Aufklärung argumentierte, nicht mehr greifen. Das hätten die Konservativen sehr viel früher verstanden als die Liberalen und Progressiven. Emotionen und Wertesysteme machten das vernünftige Argumentieren zwar nicht ganz wirkungslos. Doch wer sie vernachlässige und nur mit Fakten argumentiere, komme bei den Wählern der Gegenwart nicht mehr weit.

Lakoff ergänzt sich da perfekt mit dem Psychologieprofessor Jonathan Haidt von der New York University. Der beschreibt in "The Righteous Mind - why good people are divided by politics and religion" ("Der rechtschaffene Geist - warum gute Menschen durch Politik und Religion entzweit werden"), wie die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft durch die Mobilisierung von Werten durch die Republikaner vorangetrieben wurde. Nach der Lektüre der beiden Bücher versteht man ganz vernünftig, warum die Vernunft in der Politik nicht mehr so viel zählt.

Andrian Kreye

George Lakoff: The Political Mind, Penguin, 2009. 320 Seiten, ca. 15 Euro. Jonathan Haidt: The Righteous Mind, Penguin, 2013. 528 Seiten, ca. 13 Euro.

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