Literatur vs. Wissenschaft:Vergesst die Experten!

Lesezeit: 4 min

Romane machen schlauer: Ein akademischer Aufsatz will belegen, dass literarische Werke größere Lernerfolge erzielen als wissenschaftliche Texte.

Thomas Steinfeld

Es ist selten, dass ein akademischer Aufsatz aus einer Fachzeitschrift für Entwicklung und Entwicklungshilfe ein größeres Publikum erreicht. Dieser tut es: Eine große englische Tageszeitung zitiert die Schrift "The Fiction of Development: Literary Representation as a Source of Authoritative Knowledge" ("Die Fiktion der Entwicklung: Literarische Darstellung als Quelle verlässlichen Wissens"), als ginge es dabei um einen wissenschaftlichen Durchbruch, und in der maßgeblichen Internetbuchhandlung lässt sich die Leseliste zu dieser Studie aufrufen, die im Journal of Developmental Studies (Heft 2, 2008) erschienen ist.

Unibibliotheken - Orte des unerschöpflichen Wissens. Oder lernt man durch die heimische Belletristik-Bibliothek gar mehr? (Foto: Foto: dpa)

Dabei handelt es sich bei dem, was mit dieser Schrift bewiesen werden soll, durchaus um eine Selbstverständlichkeit. Nur spricht sie keiner aus: dass Wissen in der Literatur, literarisches Wissen, dem Wissen der Wissenschaft gegenüber oft nicht nur gleichwertig, sondern sogar überlegen ist.

Für die öffentliche Wahrnehmung spielt dabei eine Rolle, wer da spricht: David Lewis und Dennis Rodgers lehren und forschen an der "London School of Economics", einer der besten Wirtschaftshochschulen der Welt. Der eine ist Sozialpolitologe, der andere Wirtschaftsgeograph. Michael Woolcock arbeitet in leitender Stellung als Soziologe bei der Weltbank.

Fragen literarischer Wertung sind ihnen völlig fern, mit poetischen Traditionen haben sie sich nie beschäftigt, die Kritik und deren Geschichte haben sie kaum berührt. Ihr Interesse hat schlicht sachlichen Charakter. "Trotz einer regelmäßigen Produktion von akademischen Studien, Expertenberichten und strategisch motivierten Positionspapieren leisten Romanautoren vermutlich ebenso gute - wenn nicht bessere - Arbeit, wenn es um die Darstellung und Vermittlung von Tatsachen der internationalen Entwicklung geht."

Und so präsentieren die drei Autoren im letzten Teil ihrer Studie eine Reihe von Büchern, die in ihren Augen diesen Qualitäten genügen: Helen Fieldings Roman "Cause Celeb" (1994), in dem von der Arbeit einer NGO in Afrika erzählt wird, Shiral Shuklas Werk "Raag Darbari" (1968), das vom Leben in der indischen Provinz handelt, Rohinton Mistrys "A Fine Balance" (1996, deutsch "Das Gleichgewicht der Welt", 1998), einen Gesellschaftsroman, der im Indien der späten siebziger Jahre spielt, oder Monica Alis "Brick Lane" (2003, deutsch 2004).

Fiktionen erklären Politik

Nicht einmal die Frage, ob das, was sie von der Literatur behaupten, auch für andere Wissenschaften oder Disziplinen gilt, beschäftigt die drei Autoren - sie bestellen nur den eigenen Acker.

Unübersehbar aber ist, was sie in ihren literarischen Entdeckungsreisen vorantreibt: die Enttäuschung über akademische Form von Wissenserwerb und Wissensvermittlung, die ihnen um so größer gerät, als es sich bei ihrem Fachgebiet, der ökonomischen, sozialen und ökologischen Entwicklung ganzer Nationen, stets eminent politisch zugeht.

Ihr Vorwurf an das akademische Wissen lautet daher, es sei nicht "komplex" genug, es sei nicht lesbar - und es sei, horribile dictu, zu sehr von parteilichen Interessen geleitet. Als Beispiel verweisen sie auf einen Bericht der Weltbank, der im Jahr 2000 unter dem Titel "Can Africa Claim the 21st Century?" ("Hat Afrika einen Anspruch auf das 21. Jahrhundert?") erschien.

In diesem Bericht sei zwar oft davon die Rede, wie sehr die Zukunft Afrikas von einer "entschlossenen Führung", von "verantwortungsvoller Politik" oder von "verbesserten Infrastrukturen" abhängig sei. Verglichen mit dem, was schon in Chinua Achebes Roman "Things Fall Apart" (1958) über das Fortleben des Kolonialismus in Nigeria zu lesen sei, handele es sich bei solchen Kriterien allerdings im "leere Platitüden".

Wobei sich die Autoren durchaus vorsehen: "Die These, für deren Geltung wir hier argumentieren, ist nicht, dass akademische oder politische Ansätze notwendig verfehlt sind. Wir glauben auch nicht, dass die Entwicklungshilfeministerien von Romanciers übernommen werden sollen. Wir meinen lediglich, dass die politische und akademische Literatur in unserem Fachgebiet ihre Problemstellungen immer wieder so gestaltet, dass am Ende der jeweilige politische Zweck nur bestätigt wird."

Lesen Sie auf Seite 2, warum literarische Werke besser zur Wissensvermittlung geeignet sind als wissenschaftliche Aufsätze.

Die drei Gelehrten, die es fortan lieber auch mit Romanen als nur mit Fachartikeln halten wollen, sind gewiss nicht repräsentativ. Eher unbeholfen stolpern sie in der Geschichte der literarischen Kritik, bei Walter Benjamin, Hayden White oder Michel Foucault herum.

Und ihr abschließendes Bekenntnis zum schönen Schreiben des Soziologen Anthony Giddens, des früheren Rektors der "London School of Economics", trägt rührend selbstversichernde Züge, weil es ex negativo daherkommt. Denn dieser sagte: "Literarischer Stil ist nicht unerheblich für die Genauigkeit von sozialen Beschreibungen, denn die Sozialwissenschaften zehren vom selben Stoff (dem vermittelten Wissen) wie Romanautoren."

Und doch ist der neue Aufsatz ein Indiz: für einen Überdruss an akademischer Selbstreferentialität (und moralischer Selbstgefälligkeit) in einem Fach, bei dem man gerne glaubt, es müsse mehr als die meisten anderen mit Veränderungen der Wirklichkeit selbst zu tun haben, zumal hier die Verbindungen zwischen akademischem Betrieb und politischem Engagement besonders eng sind.

Und auch von der Erfahrung der Erfolglosigkeit zeugt die Flucht dieser drei Forscher aus der Wissenschaft: Monica Ali etwa habe mit "Brick Lane", der Geschichte einer Immigrantin aus Bangladesch in London, mehr für das öffentliche Verständnis globaler Entwicklungen getan, als Akademiker je zu tun vermochten hätten.

Linearität bremst Lernerfolg

Ähnliches gelte für den "Drachenläufer" (2003) von Khaled Hosseini, ein Buch, das unvergleichlich viel über das tägliche Leben in Afghanistan während der Herrschaft der Taliban und danach berichte - woran man auch sieht, wie sehr den Sozialwissenschaften die Maßstäbe ästhetischer Wertung gleichgültig sind.

Was literarische Werke von Aufsätzen unterscheidet, sehen die Autoren dabei durchaus: die Freiheit zur Gestaltung von idealtypischen Figuren und Situationen, die Möglichkeit, sich zwecks Schilderung sozialer Komplexität von der Empirie und dem Zwang zur Verifikation zu befreien, die Offenheit der Darstellung. Und der Leser ahnt, was die drei akademischen Entwicklungshelfer damit meinen: die Freiheit der Literatur zum Bild, die Fähigkeit, eine Bewegung anzuhalten, gleichsam auf der Stelle zu atmen und eine Situation gleichsam wie eine lebendige Zelle zu betrachten, sie flimmern und vibrieren zu sehen.

Nein, das kann man mit den Mitteln wissenschaftlichen Schreibens, die den Autor immer auch zur Linearität zwingt, nicht erreichen, auch wenn die Erkenntnis selbst, das (eher langsame als plötzliche) Aufglühen von Sinn, selbst eher nach Art der Literatur und nicht nach Art der Wissenschaft zu verlaufen scheint.

Was die drei plötzlich von der Literatur euphorisierten Gelehrten nicht sehen, ist die andere Seite der heilenden Wirkung, die von guter Literatur ausgeht: Denn das literarische Bild lässt sich ja am Ende nicht fixieren, für seine Intensität und Lebendigkeit zahlt es mit einer grundsätzlichen Offenheit seiner Absichten - und um diese in Eindeutigkeit zu verwandeln, bedarf es einer Zweckhaftigkeit, die genau das tut, was in der Literatur nicht geht: nämlich (im weitesten Sinne) politisch zu agieren.

Und so berufen sich die drei Gelehrten zwar auf Honoré de Balzac, der zu Beginn seines Romans "Vater Goriot" (1837) behauptete, alles an seiner Tragödie sei "wahr". Geschrieben aber haben sie doch einen wissenschaftlichen Aufsatz, keine Erzählung.

© SZ vom 13.11.2008/jb - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: