Literatur über Ersten Weltkrieg:Stark sein, Mut haben, Fallen üben

Postkarte 'Fussartillerie.  Schwere Feldhaubitzen' | Postcard 'Artillery. heavy field howitzer' Erster Weltkrieg

'Fussartillerie. Schwere Feldhaubitzen': Romantisierte Vorstellung vom Krieg auf einer deutschen Postkarte

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo / Oliver Das Gupta)

Die Anthologie "Über den Feldern" vereint siebzig literarische Meisterstücke der Weltliteratur zu einem Panorama des Krieges. Sie zeigt auch: Viele empfanden 1914 den Krieg als Erlösung von der Tretmühle des Alltags.

Von Ulrich Baron

Der Erste Weltkrieg war auch ein Papierkrieg, in dem Millionen von Soldaten Milliarden von Feldpostbriefen schrieben. Und nicht nur mit Anthologien wie Philipp Witkops "Kriegsbriefe gefallener Studenten" zog ein Authentizitätsanspruch in die Kriegsliteratur ein, der sich gegen die autoritative Feldherrenperspektive, aber auch gegen fiktionale Gestaltungen richtete.

Seine Beschreibung des Frontalltags, die als "Le Feu" bereits Ende 1916 erschien, untertitelte Henri Barbusse "Tagebuch einer Korporalschaft". Vier Jahre später veröffentlichte Ernst Jünger seine Aufzeichnungen "Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers" und beanspruchte so für "In Stahlgewittern" die Expertise des erfahrenen Frontkämpfers.

Gegenposition zum dezidierten Dokumentarismus

"Hier ist kein Roman. Hier ist ein Dokument!" postulierte fast ein Jahrzehnt später auch der Anarchist Theodor Plievier in seinem von der Geschichtsschreibung sträflich vernachlässigten Dokumentarroman "Des Kaisers Kulis" ("Und dann. Ich bin doch auch dabei gewesen").

Provozierend ist Plieviers Buch über die Leiden und Rebellion der Matrosen in der deutschen Kriegsmarine schon wegen seines ersten Kapitels "Shanghaied!" Es beschreibt die brutale Rekrutierung von Seeleuten und konterkariert damit die Legende vom "Augusterlebnis". Plieviers anarchistische "Kulis" zogen nicht begeistert und blumenbekränzt in den Krieg, sondern als "Auf Grund des Paragraphen 78 der Wehrordnung zwangsweise eingebrachtes Menschenmaterial".

So unterschiedlich die Positionen dieser "auch dabei gewesenen" Autoren sein mögen, zählen ihre Bücher doch zusammen mit Erich Maria Remarques Besteller "Im Westen nichts Neues" zu den wichtigsten und folgenreichsten literarischen Zeugnissen des Ersten Weltkriegs. Mit anderen wichtigen Werken freilich teilen sie auch das Schicksal, in der vom Leiter des Manesse-Verlags Horst Lauinger herausgegebenen Anthologie zum Weltkrieg nicht vertreten zu sein.

Zum einen, weil Lauinger seine Auswahl - mit Ausnahme eines Auszugs aus Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" - auf abgeschlossene Texte beschränkt. Zum anderen wohl auch, weil das Manesse-Programm den Kanon der internationalen Hochliteratur abbildet und nur behutsam erweitert. So wird die Marine-Perspektive hier von dem Japaner Akutagawa Ryunosuke beigesteuert.

Der persische Autor Mohammad Ali Dschamalzade beschreibt in "Die Bärenfreundschaft" den Raubmord russischer Kosaken an einem arglosen jungen Muslim. Jorge Luis Borges vollzieht in "Der Schandtatenmakler Monk Eastman" den Tigersprung von New Yorker Bandenkämpfen zu den Schützengräben Europas.

Allein schon ihre Internationalität macht Lauingers kluge Auswahl zum preisenswerten Novum. Sie schafft einen Kontext, der auch Bekanntem neue Aspekte abgewinnt - und damit eine literarische Gegenposition zum dezidierten Dokumentarismus. Hier findet sich der Wiener Kaffeehausbewohner Peter Altenberg ebenso wie der pathetische Gabriele d'Annunzio - auch ein Heinrich Mann, ein Ivo Andrić, ein früher Céline, ein William Faulkner, Boris Pasternak und Alexei Tolstoi sind vertreten.

"Wir waren alle ein bisschen gleichgültig" beschreibt Ernest Hemingway die Stimmung der Veteranen, während Autorinnen wie Gertrude Stein und Virginia Woolf an der Dominanz männlicher Kriegsdarstellungen rütteln. Vernon Lee beschwört in "Der Tanz der Völker" die Allegorie des Totentanzes herauf. Edith Wharton führt mit "Eine Kriegsgeschichte schreiben" auf eine Meta-Ebene, wo sich die Adressaten der titelgebenden Kriegserzählung nicht für den kunstvoll gestalteten Text, sondern nur für das Foto seiner Verfasserin begeistern.

Zu solcher Distanzierung und Ironisierung passt es, dass die klassische Mutter-Courage-Perspektive, die Geschichte einer Frau, die ihre Trauer um den gefallenen Sohn verbirgt, um ihre hochschwangere Schwiegertochter zu schützen, in Yakub Kadris Erzählung "Frau Zeynep" von einem Mann vermittelt wird. Eine weibliche Perspektive wählt auch Rudyard Kipling, dessen Erzählung "Mary Postgate" wie eine Gesellschaftshumoreske anmutet, bis deren Heldin einem verstümmelten Bombenflieger in ebenfalls verstümmeltem Deutsch vorhält: "Ich haben der tot Kinder gesehn."

Moribunder Chronist einer moribunden Gesellschaft

Um Kinder geht es auch beim großen Spötter Saki. In "Das Friedensspielzeug" torpedieren die lieben Kleinen alle friedenspädagogischen Ansätze, indem sie ihre "Toys of Peace" martialisch umwidmen: "Wir haben zu spät damit begonnen", kommentiert der Protagonist sein Waterloo als Friedensstifter.

Die nackte Wirklichkeit des Maschinenkrieges, die Jünger und Plievier beschrieben haben, findet sich hier nicht, aber auch nicht die Inflationierung des Grauens. Die Schrecken des Krieges spiegeln sich vermittelt in den Tränen der Frau Zeynep und ihres neugeborenen, vaterlosen Enkels. Und noch subtiler in Regentropfen, mit denen der wahrlich nicht felddiensttaugliche Eduard Graf von Keyserling, der moribunde Chronist einer moribunden Gesellschaft, ein Gegenstück zu Jüngers Stahlgewittern geschaffen hat.

Seine Erzählung "Im stillen Winkel" beschreibt den Verfall der Familie von der Ost während eines Landurlaubs. Der Vater ist Bankdirektor und Zahlenmensch, die Mutter eher eine Effi Briest; und der charmante Volontär von Wirden ist der "Windhund", dessen Anhänglichkeit zum Problem werden könnte. Aber eigentlich geht es um den elfjährigen Paul, der ein weiches Kind ist und von der Dorfjugend als "Würmchen" verspottet wird. So spielt er in seiner Kinderstube "stark sein". Später, als man immer mehr vom Krieg hört, spielt er im Garten "Mut haben". Endlich dann auch "Fallen", doch dabei ist der Vater ihm nun schon vorausgegangen. Als die Hänseleien nicht enden, flieht Paul nach vorne, in dichten Wald und abendliches Gewitter: "Da war er bei den Schützengräben, ganz gelb lagen sie vor ihm, und da war auch Blut."

Das ist kein Stahlgewitter, aber der Regen ist kalt, und so schwindet Pauls Leben im Trommelfeuer seiner Tropfen dahin: "Das konnte er doch - sterben", sagen seine Quälgeister über den Knaben, der wie sein Schöpfer "ein seltsam starkes Gefühl für die Unsicherheit unsres Daseins" hatte.

"Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir all die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr", heißt es hingegen in Jüngers "Stahlgewittern". Doch das ist kein Widerspruch. Für den Schulversager Jünger bedeutete diese Sicherheit wie für Joseph Roths "Stationschef Fallmerayer" nur, dass kein Ausweg aus der Tretmühle seiner Existenz sichtbar war.

Dann aber kommt in Roths Erzählung die Katastrophe, die Fallmerayers Leben eine unverhoffte Wendung gibt. Ein Zugunglück wirft dem subalternen Beamten eine russische Gräfin zu Füßen, und als dann der Krieg ausbricht, scheint ihm das allein dem Zweck zu dienen, ihn von seiner Existenz zu erlösen, um der geliebten Frau quer durch Europa folgen zu können.

Doch der Krieg wird das neue Leben, das durch ihn möglich zu werden schien, auch wieder einkassieren. Fallmerayer verschwindet spurlos, und seine Geschichte, die so statisch begann, wurde zur Avantgarde unzähliger Odysseen, die auf die große Ilias des 20. Jahrhunderts folgen sollten. Deren Helden fanden oft keine Heimat mehr. Vielleicht insistierten sie deshalb so sehr darauf, einst auch "dabei" gewesen zu sein.

Horst Lauinger (Hrg.): Über den Feldern. Der Erste Weltkrieg in großen Erzählungen der Weltliteratur. Manesse Verlag, Zürich 2014. 784 S., 29,95 Euro.

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