Literatur:Siegfried Lenz' neuer alter Roman: Einst defätistisch, jetzt großartig

Schriftsteller Siegfried Lenz

2014 ist Schriftsteller Siegfried Lenz gestorben - nun erscheint sein früher Roman "Der Überläufer".

(Foto: dpa)

Sein Verlag wollte das Buch verhindern, weil es zu pazifistisch sei: Aus dem Nachlass von Siegfried Lenz erscheint nun sein früher, bisher unbekannter und doch so lesenwerter Roman "Der Überläufer".

Von Franziska Augstein

Aus dem Nachlass des 2014 verstorbenen Siegfried Lenz wurde ein Schatz geborgen: "Der Überläufer" ist ein großartiges Buch und ein Zeugnis davon, wie junge deutsche Veteranen sich nach dem Zweiten Weltkrieg fühlten. Das Buch, Siegfried Lenz' zweiter Roman, war 1951 vom Verlag abgelehnt worden, mit höchst dubiosen Begründungen, von denen noch die Rede sein wird. Der 26 Jahre alte Autor hat die Kränkung hingenommen, das Manuskript beiseite gelegt und es dann vergessen.

Walter Proska ist dieser Überläufer, ein junger Soldat, der 1944 in Schlesien im Feld liegt. Mit seiner kleinen Einheit befindet er sich im sommerlich-heißen, sumpfigen Nirgendwo. Seine Feinde sind bissige Fliegen und Partisanen. Zur Wehrmachtsdienststelle im nächsten Ort gibt es keinen Kontakt. Die Handvoll Soldaten fühlt sich allein gelassen. Jeder wird, seiner jeweiligen Natur gemäß, ein wenig irre.

Ordnung muss schon sein, auch im Sumpf

Der Anführer der kleinen Soldatenschar ist ein Korporal namens Stehauf, der vor allem "Wehrmachtseigentum" schützen will: Ordnung muss schon sein, auch im Sumpf, die endgültige Niederlage lauernd im Gebüsch. Als ein Soldat beerdigt wird, legt Proska sein Taschentuch auf das blutig-entstellte Gesicht. Stehauf kommentiert das unweigerlich mit der herrischen Frage: "Wehrmachtseigentum?"

Im Übrigen ist der Korporal eine durchaus unterhaltsame Figur: Lenz legte ihm abgedroschenen Landserhumor in den Mund, an den Zivilisten nicht gewöhnt sind: "Halten Sie Ihr Maul, sonst erkältet sich Ihr Darm", "Denken Sie nur nicht zuviel." Zynisch-kaltschnäuzig redet der Korporal Stehauf in der verloren Sumpfhitze, wie es viel später in amerikanischen Vietnamkriegsfilmen zu sehen war. Stehauf fackelt nicht lange, für ihn sind alle Fremden, die sich aus dem Unterholz nähern, Partisanen, die erschossen gehören: Sollte einer zufällig nicht mit Sprengstoff munitioniert sein, war er nur zu blöd, ihn einzustecken.

An einem aus Oberschlesien stammenden Soldaten hat Lenz ein für fremde Ohren poetisch-komisches, weil mundartliches Deutsch erprobt, das er wenige Jahre später in seinen Kurzgeschichten "So zärtlich war Suleyken" vervollkommnete: Angesichts des Toten mit dem zerschossenen Gesicht, dessen Tod der Mann nicht wahrhaben will, sagt er hilflos: "Er hat auf Ehrenwort gestöhnt."

Auch dieser grundgute Oberschlesier hat sich längst in einen ganz anderen Kampf geflüchtet: in einen ehrenhaften Zweikampf. Wie sein Urheber ist dieser Soldat ein leidenschaftlicher Angler. Einem alten, erfahrenen Hecht ist er auf der Spur - vergebens, so wie eigentlich alle Unterfangen der Mannschaft in dem Unterstand, den sie "Festung Waldeslust" getauft haben, ins Leere gehen. Einer sieht Momente lang das Hauptziel seines Kriegseinsatzes darin, eine Ratte zu erschießen. Das immerhin gelingt. Bevor Proska zu diesem Haufen stößt, macht er die Erfahrung seines Lebens: Er sitzt in der Eisenbahn zusammen mit einer Polin. "Seine Knie waren wenige Zentimeter von den ihren entfernt".

Die Liebesgeschichte beginnt mit Sprengstoff in einer Urne

So leitet Lenz die Liebesgeschichte ein, die allerdings nicht gut anfängt, weil die liebreizende Wanda, von ihm Eichhörnchen genannt, in der Urne, die vorgeblich die Asche ihres Bruders enthält, Sprengstoff versteckt hat. Dass Proska später - der Zufall ist der Feind dieser Liebenden - einen nahen Verwandten von Eichhörnchen erschießt, verbessert seine Chancen bei ihr nicht. Proska muss einsehen: "Jede Entscheidung schickt ihre Rechnung."

Siegfried Lenz' Sprache ist an Hemingway geschult, dem Meister männlicher Lakonik, der jungen Autoren half, das verlogene, megalomane Kitsch-Geraune der NS-Zeit zu überwinden. Lenz vereinte Hemingways unsentimentale Prägnanz mit dem damals in Westdeutschland modischen Hang zur ausschweifenden Aufladung der Natur mit Empfindsamkeit. Viele deutsche Nachkriegsautoren fanden zur Romantik. Der Dichter Peter Rühmkorf hat sich seinerzeit in einem schmissigen Aufsatz darüber mokiert, wie oft das Blau von des Dichters Novalis phantasmagorischer "blauer Blume" in Gedichten der Fünfzigerjahre auftaucht. Nein, gar so simpel hielt die Romantik bei Siegfried Lenz nicht Einzug. Was seinen Figuren an Selbstbewusstsein fehlt, verlagerte er in die Natur.

Die existentielle Ungewissheit der Soldaten in der Festung "Waldeslust" macht die Natur zur Akteurin. Da blicken, auf der Bahnreise, einige alte Fichten "gleichmütig" ins Abteilfenster hinein. Die Dämmerung "benimmt sich sehr ängstlich". "Der Mond ist neugierig." Von "zuversichtlichen Haselnussgerten" ist die Rede und vom "zähen eigenbrötlerischen Gestrüpp von wilden Brombeerranken". Alle Freunde von Haselnusssträuchern und wilden Brombeeren wissen, dass diese sich nicht nur bei einer nahenden totalen Kriegsniederlage so benehmen. Es liegt im Auge der Beschauer, ob es ihnen auffällt.

Mit welch erschreckenden Briefen der Verlag das Buch ablehnte

Besonders eng ist Walter Proska mit einem jungen Soldaten, der mehr über Tod und Trost, Pflicht und Schuld herumphilosophiert, als ein gemäßigter Nachdenker wie Proska eigentlich ertragen könnte. Der Soldat wird Milchbrötchen genannt. Denn er hat einen bleichen Teint - offenbar sinniert er wirklich zu viel; und offenbar war der junge Autor Lenz nicht ganz immun gegenüber stereotypen Darstellungen. Angesichts der Vielzahl der Figuren in dem Roman, die so gewöhnliche Vornamen tragen, dass man sie sich kaum merken kann, hat der Spitzname erfreulichen Wiedererkennungswert.

Milchbrötchen bringt vieles mit rhetorischer Überlast auf den Punkt, was Proska empfindet: "Ich würde mich für keinen Winkel oder Weg abknallen lassen wie mein Vater. Er nämlich sprach von ,Pflicht', vom 'Bereitsein', und wie dieses rhetorische Sickergift sonst noch heißt." Dann macht Milchbrötchen eine Bemerkung, die 1989 in der DDR sinngemäß wieder aufkam: "Verstehst du, Walter: wir sind auch Deutschland und nicht nur die andern, und es wäre doch eine komplette Idiotie, wenn wir uns, die wir Deutschland sind, für Deutschland, also für uns selbst, opferten."

Aus eigener Erfahrung wusste der Autor, was Proska durchmacht

Aktuelles Lexikon: Literaturarchiv

Der erste deutsche Autor, der systematisch die Überlieferung seines Nachlasses organisierte, war Goethe. Sein Freund Schiller hat in der Regel seine Manuskripte nach Drucklegung nicht aufgehoben. In Schillers Geburtsort Marbach aber residiert das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA), sein Träger ist die Deutsche Schillergesellschaft. Es sammelt deutschsprachige Literatur und Philosophie von 1750 bis zur Gegenwart und ist mit 1400 Nachlässen, Teilnachlässen und Sammlungen das größte deutsche Literaturarchiv in freier Trägerschaft. Zu seinen Beständen zählen nicht nur Schriftdokumente, sondern auch Bilder und Objekte wie das Taufkleid von Thomas Mann oder die Totenmasken von Friedrich Nietzsche, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Viele dieser Objekte kann man im "Literaturmuseum der Moderne" sehen. Es gehört wie das Schiller-Nationalmuseum zur "vermittelnden Abteilung" des Archivs. Viele Autoren übergeben dem Archiv ihre Nachlässe schon zu Lebzeiten. Sie heißen dann "Vorlässe". Siegfried Lenz besuchte das Deutsche Literaturarchiv im April 2014 und war so begeistert, dass er beschloss, seinen Nachlass nach Marbach zu geben. Kurz vor seinem Tod am 7. Oktober 2014 wurde der Vertrag unterzeichnet. Aus dem Nachlass ist nun der bisher unbekannte frühe Roman "Der Überläufer" erschienen. Lothar Müller

Der stetigen Beschallung mit politisch-existentialistischen Bedenken entkommt Proska, indem er einen Entschluss fasst: zu den Partisanen überlaufen, und sei es zu den Sowjets, Schluss machen mit der "Klicke", als welche er Hitler und seine Kamarilla nun bezeichnet. Das Partisanenleben aber, es ist "ebenso grau, um nichts besser". Oder eben doch besser: Die Verwundeten, denen er begegnet, "triumphierten im Schmerz". Anders als die Deutschen wähnen sie zu wissen, wofür sie ihr Leben aufs Spiel setzen. Ohne zu ahnen, was Proska dann erleben muss: wie die Träume von Freiheit in der sowjetischen Einflusszone bald nach dem Krieg zunichte werden.

Aus eigener Erfahrung wusste Siegfried Lenz, was Proska durchmacht, was ihn zum Desertieren treibt: Er selbst war, eingezogen zur Kriegsmarine, eigentlich ein standhafter deutscher Soldat. Erst 1944, berichtet sein Biograf Erich Maletzke, kamen dem etwa Achtzehnjährigen Zweifel - ungefähr zur selben Zeit wie seinem Protagonisten Proska. Kurz vor Kriegsende desertierte Lenz. Von britischen Truppen wurde er in Norddeutschland für kurze Zeit in Gewahrsam genommen.

Von der Diktion der NS-Volksgemeinschaft noch nicht gelöst

Der Existenzialismus, die Beschäftigung mit dem prekären Ich, war auch eine Reaktion auf das soldatische "Wir" der Kriegszeit. Das "Wir" hatte Lenz spätestens seit 1944 hinter sich, das werte Ich nahm er nicht zu wichtig. Schon in "Der Überläufer" zeigt sich, was er später "Selbstversetzung" nannte, sich einzufühlen in die Figuren seiner Geschichten. Aber Lenz' Wahrhaftigkeit schmeckte 1951 den Sachwaltern des Verlages nicht, der immerhin sein Erstlingswerk "Es waren Habichte in der Luft" gedruckt hatte. Sie ließen das Manuskript durchfallen.

Die Briefe, die Lenz damals vom Verlag Hoffmann und Campe erhielt, sind erschreckend. Zunächst wurde "nur das Technische, das Handwerkliche" beklagt. Im zweiten Brief ging es dann zur Sache: die "pazifistischen, defaitistischen Gedankengänge" schienen dem Lektor untragbar, das "Odium der handgreiflichen Treulosigkeit gegen die Heimat".

Der Lektor hielt es "für äusserst gefährlich, den Roman im bisherigen Zustande zu publizieren. Er würde, was seine Gesinnung betrifft, scharf unter die Lupe genommen werden". Diese Worte verraten einen Mann, der sich von der Diktion der NS-Volksgemeinschaft offenbar noch nicht gelöst hatte. Lenzens inkriminierter Pazifismus, man kann auch sagen: seine Friedfertigkeit, kam dem Verlag dann allerdings zugute: Der Autor legte das Manuskript ad acta; neue Lektoren kamen; und Lenz blieb sein Leben lang Autor von Hoffmann und Campe.

So wird dieser in beispielhaft schönem Deutsch verfasste Roman, das reife Werk eines jungen Mannes, erst jetzt publiziert. Es ist anständig vom Verlag, aus der üblen Vorgeschichte kein Hehl zu machen.

Siegfried Lenz: Der Überläufer. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 368 Seiten, 25 Euro. E-Book 19,99 Euro.

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