Literatur:Traurig ist ein Türke und selbstbewusst

Eine sichere Entscheidung in unsicherer Zeit: Orhan Pamuk erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Von Lothar Müller

Dies ist, gerade weil sie in einer Zeit der Desillusionierung Europas über sich selbst erfolgt, eine gute Wahl: der Börsenverein vergibt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für das Jahr 2005 an den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk.

Preisträger Orhan Pamuk

Preisträger Orhan Pamuk.

(Foto: Foto: AP)

Noch ist der Schock über das Scheitern des europäischen Gipfels nicht verflogen. Eben erst zogen türkische Demonstranten durch Berlin, um gegen die Entschließung zu protestieren, mit der in der vergangenen Woche alle Fraktionen des Bundestages der türkischen Massaker an den Armeniern im Jahre 1915 gedachten.

Dass die Europäische Union Beitrittsverhandlungen mit der Türkei führen wird, ist beschlossene Sache. Wie lange sie dauern und wie sie ausgehen werden, ist ungewisser denn je. Ja, dies ist eine gute Wahl.

Orhan Pamuk, geboren 1952 in Istanbul, ist in den letzten Jahren, nicht zuletzt durch seinen Erfolg in den angelsächsischen Ländern, zu einem Autor von internationaler Statur geworden.

Roman voller Nationalisten und Separatisten

Fünf seiner bisher sieben Romane sind auch in Deutschland erschienen, zuletzt der politische Roman "Schnee" (Hanser Verlag 2005).

Darin kehrt der Held, ein im Frankfurt im Exil lebender Schriftsteller, in den frühen neunziger Jahren nach Istanbul zurück und bricht von dort aus in die ostanatolische Provinz auf, um eine Reportage über die Mädchen zu machen, die sich dort umbringen, weil sie gezwungen werden, ihre Schleier abzulegen.

Es ist ein Roman voller Nationalisten und kurdischer Separatisten, voller undurchsichtiger Terroristen, in deren Mündern die Verlautbarungen des politischen Islamismus wie poetische Briefe klingen, voll sehnsüchtiger Jugendlicher, die den Staat herausfordern.

Und es ist zugleich der Roman einer melodramatischen Liebe und eines Gedichtzyklus, der dem Modell eines Schneekristalls nachgebildet ist. Es ist kein Zufall, dass im Zentrum dieses politischen Romans ein hohes Lied auf die Poesie steht. Es gehört zum Ehrgeiz des Schriftstellers Pamuk, die Kunst nur ihren eigenen Gesetzen folgen zu lassen.

Die Vorgänger von Orhan Pamuk waren die amerikanische Essayistin Susan Sontag und der ungarische Autor Péter Ésterházy. In beiden Fällen hatte die Entscheidung etwas von einer Geste der Ratifizierung.

Im Falle Susan Sontags beschwor sie noch einmal die transatlantische Brücke zwischen Europa und den europaorientierten Repräsentanten amerikanischer Selbstkritik. Und Péter Ésterházy, dessen opus magnum "Harmonia Caelestis" (2001) aus dem eigenen Stammbaum einen gesamteuropäischen Familienroman herauswachsen lässt, erhielt die Auszeichnung kurz nachdem Ungarn und andere Länder Mitteleuropas und des Baltikums formell der Europäischen Union beigetreten waren.

Dieser Friedenspreis 2005 aber ist keine Geste der Ratifizierung einer neuen Ordnung.

Traurig ist ein Türke und selbstbewusst

Sie ist eine Geste, die den offenen Charakter der europäischen Zukunft akzentuiert, nicht zuletzt die Frage nach den künftigen Grenzen Europas.

Pamuk gehört der gleichen Generation an wie Ésterházy. In den angelsächsischen Ländern ist in diesem Frühjahr seine "Harmonia Caelestis" erschienen, "Istanbul. Memories of a City", ein Buch ebensosehr der Kindheit, der Herkunft und der Familienmythologie seines Autors wie der literarisch-historischen Hommage an die Heimatstadt.

Unbehagen der modernen Türkei an sich selbst

"Istanbul" enthält zugleich in alten Fotografien, in Erinnerungen und Zitatcollagen, nicht selten die Atmosphäre einer Gespenstergeschichte streifend, die Zerfallsgeschichte des osmanischen Reiches, aus der, bedenkenlos wie Fortinbras, der moderne türkische Nationalstaat heraustritt.

Orhan Pamuk ist ein Kind der städtischen, vom technologischen Fortschritt wie von der westlichen Kultur geprägten Türkei. Aber wer in seine Bücher hineinschaut, bemerkt sogleich, dass in ihnen das Unbehagen der modernen Türkei an sich selbst rumort, nicht zuletzt das Unbehagen am autoritär modernen, militärgestützten Nationalstaat, der die kulturelle und ethnische Vielfalt ebenso streng als seinen Widerpart behandelt wie die Religion.

Der Börsenverein ehrt, so der Stiftungsrat in der Begründung seiner Wahl, mit Orhan Pamuk einen Schriftsteller, "der wie kein anderer Dichter unserer Zeit den historischen Spuren des Westens im Osten und des Ostens im Westen nachgeht".

Es hat mit dieser Spurenlese seine besondere Bewandtnis. Ihr Antrieb ist nicht die Versöhnung der Kulturen, nicht das Zusammenknüpfen orientalischer und okzidentaler Erzählfäden zu einem bunten Teppich.

Denn wenn er in seinem Roman "Rot ist mein Name" (1998, deutsch 2001) aus dem Import der europäischen Perspektivmalerei einen tödlichen Aufruhr unter den frommen Buchillustratoren und Kalligraphen Istanbuls entstehen lässt, dann beerbt sein Kultur-Krimi aus dem späten 16. Jahrhundert Traditionen eben des "Orientalismus", den Edward Said so gescholten hat.

Das Istanbul Pamuks ist aus der Rivalität mit den Reiseberichten westlicher Schriftsteller entstanden. "Hüzün", die türkische, kollektive Melancholie der großen Stadt, setzt Orhan Pamuk dem Paris der Impressionisten, dem Spleen Baudelaires und der Malerei Delacroix' entgegen.

Pamuks "Orientalismus" hat einen einfachen Grund: Die Türkei war nie eine Kolonie des Westens. Das Großreich, dessen Spuren und Ruinen seine Romane mustern, war das eigene. Das osmanische Reich spielt bei Pamuk eine - auch in der augenzwinkernden Idealisierung - ähnliche Rolle wie bei mitteleuropäischen Autoren der Vielvölkerstaat Habsburg.

Kosmopolit Pamuk

Es gehört zu den Kontrastspiegeln, die dem Nationalstaat vorhalten, was er ausschloss, als er in Sprache, Kleidung und Ersetzung der arabischen durch die lateinische Schrift die politische Modernisierung als Projekt der kulturellen und ethnischen Uniformierung betrieb.

Pamuk, in der kosmopolitischen Oberschicht Istanbuls aufgewachsen, hat die andere, die ländliche, dunkle, anatolische Türkei entdecken müssen und entdecken wollen wie ein Fremder.

Darum sind manche seiner Romane Kreuzungen aus road movie und Expedition, darum fahren seine Helden, etwa in "Das neue Leben" (1994, deutsch 1998) mit Überlandbussen nach Osten. Darum hat er sich durch Äußerungen über die kurdischen und armenischen Opfer der Turkifizierung bei den Nationalisten seines Landes so unbeliebt gemacht, dass er nach deren Kampagne im März 2005 eine Lesereise durch Deutschland absagen musste.

Darum aber steht er zugleich in skeptischer Distanz zu den vorbehaltlosen Propagandisten der Verwestlichung. Mit Orhan Pamuk wird am 23. Oktober ein Türke an das Rednerpult in der Paulskirche treten, dem Europa gut zuhören sollte, gerade weil er ihm nicht nach dem Munde reden wird.

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