Literatur:Rauschende Verbindung

Was wäre passiert, wenn Charles Darwin und Karl Marx sich begegnet wären? Die Autorin Ilona Jerger ist dieser Frage nachgegangen und erzählt davon in ihrem Debütroman "Und Marx stand still in Darwins Garten". Sie zeichnet dabei die beiden großen Denker von sehr privater Seite

Von Yvonne Poppek

Ein ideales Thema ist er ja nicht, dieser Regenwurm. Also, nicht unbedingt als Tischgespräch in einem großbürgerlichen britischen Landhaus, bei Artischockencremesuppe und Dorsch in Austernsauce an einer mit edlem Wedgwood-Porzellan gedeckten Tafel. Zumal, wenn der Redende "Unmengen an Fakten" verdaut und "Sätze länglichen Formates" produziert, die, "einmal in Gang gesetzt, schwerlich wieder zu stoppen" sind. Andererseits: So ein Wurm-Gespräch in all seinen Facetten ist harmloser als etwa die Diskussion über die Existenz Gottes. Insbesondere, wenn ein Naturwissenschaftler, ein Kommunist und ein Pfarrer an ihr beteiligt wären. Aber verhindern lässt sich dieses drängende Thema natürlich nicht, selbst nicht durch Regenwurm-Sätze.

Die Szenerie klingt wie aus einem überdrehten Kammerspiel entnommen. Die gehemmte und steife Atmosphäre, das abwegige Thema. Aufgeschrieben hat sie indes Ilona Jerger in ihrem Debütroman "Und Marx stand still in Darwins Garten" (Ullstein). Es ist die zentrale Szene in ihrem Buch, in dem die teils in München, teils bei Wolfratshausen lebende Autorin die Lebensläufe von Charles Darwin und Karl Marx zusammenführt. Die Situation hat Jerger frei erfunden; die Möglichkeit, dass sich Darwin und Marx gekannt haben könnten, indes nicht. Eine Möglichkeit, die bislang keine sonderliche Beachtung fand, aus der Jerger aber ein 260 Seiten starkes Buch entwickelt hat.

Charles Darwin

Evolution: der behutsame Beobachter Carles Darwin.

(Foto: Getty Images)

Um ein solches skurriles Tischgespräch zu erfinden, muss sich jemand schon sehr tief in die Lebenssituation, in Werk und Denken der Protagonisten hineingearbeitet haben. Im Fall von Ilona Jerger kann man sogar von einer Leidenschaft für ihre Figuren sprechen. Oder besser gesagt: für Charles Darwin. Denn dass sie über den Naturwissenschaftler und Verfasser von "Die Entstehung der Arten" einmal einen Roman schreiben wolle, das stand für Jerger schon seit 2007 fest. Eine Biografie, das wusste sie von Anfang an, sollte es nicht werden. "Ich wollte nicht sein Leben nacherzählen", sagt sie. Vielmehr sei sie fasziniert gewesen von "dieser Schuldverstrickung", dass "ein Mann, der Priester werden wollte, später als Kollateralschaden seiner Arbeit den Schöpfer abschafft".

2017 ist Jergers Roman erschienen - zehn Jahre also nach ihrer Idee. Die Autorin selbst nennt das "Inkubationszeit". Jerger arbeitete 2007 noch als Chefredakteurin der Zeitschrift Natur. Von 2001 bis 2011 hatte sie diese Position in München inne. Zuvor hatte sie als stellvertretende Chefredakteurin das Magazin mitgeprägt. In diese Aufgabe war sie hineingewachsen: Nach ihrem Studium von Politologie und Germanistik arbeitete sie als freiberufliche Journalistin. Schon immer, so erzählt sie, mochte sie die Themen, die sie vertiefen konnte. Sie eignete sich die Fakten an - und entwickelte daraus Artikel, Radio- und Fernsehbeiträge und Sachbücher.

Karl Marx

Revolution: der polternde Haudrauf Karl Marx. Er hatte mit Darwin viele Gemeinsamkeiten. Beide litten beispielsweise unter Schlaflosigkeit und Migräne. Und sie trugen gerne Bart.

(Foto: Getty Images)

Ein Thema tauchte dabei in ihrem Werdegang immer wieder auf: Charles Darwin. Und Jerger befasste sich mit ihm, las Biografien, seine Schriften. Blickt man heute in das Arbeitszimmer von Jerger, vermag man die Intensität dieser Arbeit ein wenig abzuschätzen: Ein ganzes Regal gehört Büchern von oder über Darwin und Marx. 2007 versuchte die Autorin erstmals, ihren Plan umzusetzen und einen Roman anzufangen. "Nach ein paar Monaten habe ich traurig den Stift wieder hingelegt", sagt sie. Zu sehr beanspruchte sie die Arbeit in der Redaktion, lediglich Zeit, sich noch weiter einzulesen, blieb. "Im Nachhinein war diese lange Wartezeit ein Glück", sagt sie heute.

2011 allerdings hatte die Inkubationszeit ein Ende: Jerger kündigte - und widmete sich ihrem Herzensprojekt. Und plötzlich stolperte sie über eine Randbemerkung: Marx hatte Darwin sein Hauptwerk "Das Kapital" mit einer Widmung geschickt. "Da war ich so angefixt", erzählt sie. Kannten die sich? Haben die miteinander geredet? Immerhin wohnten sie am Ende ihres Lebens nur etwas mehr als 30 Kilometer auseinander. "Meine Fantasie war beflügelt." Darüber hinaus hatte sie nun auch einen Zugang gefunden, über Darwin zu schreiben, ohne sein Leben zu erzählen: Sie entwickelte einen Plot rund um eine Begegnung der beiden Männer 1881 in Darwins "Down House" nahe London.

Literatur: Ilona Jerger hat sich lange mit Charles Darwin befasst - dann schrieb sie einen Roman über ihn. Die Autorin und einstige Chefredakteurin von "Natur" lebt in München und bei Wolfratshausen.

Ilona Jerger hat sich lange mit Charles Darwin befasst - dann schrieb sie einen Roman über ihn. Die Autorin und einstige Chefredakteurin von "Natur" lebt in München und bei Wolfratshausen.

(Foto: Marcus Gruber)

Wenn Jerger heute von ihren Forschungen zu Darwin und Marx erzählt, dann scheint ihr nichts von der Faszination verloren gegangen zu sein. "Revolution und Evolution", erklärt sie beispielsweise, das passe zu den jeweiligen Charakteren: auf der einen Seite der polternde Haudrauf Marx, auf der anderen Seite der die allmähliche Entwicklung beobachtende Darwin. Allerdings fand sie auch viele Parallelen: Beide waren große Denker mit rauschenden Bärten, beide verloren ihre Lieblingskinder, Darwin wollte Priester werden, Marx kam aus einer Rabbinerfamilie, beide litten unter Schlaflosigkeit, Migräne, Übelkeit und Hautproblemen.

Über die gesundheitliche Parallele fand Jerger schließlich den Verbindungspunkt. Sie erfand den Hausarzt Dr. Beckett, der Zugang zu den Häusern hat, die privatesten Details kennt und bespricht. Zugleich ist Beckett ein Wissenschaftler und Forscher, interessiert an den Ansichten von Darwin und Marx. "Beckett hat die Chance, die Fragen zu stellen, die ich selbst gerne gestellt hätte", sagt Jerger. Der Arzt kann Darwin und Marx auf das Nachtkästchen schauen und zugleich mit ihnen darüber diskutieren, ob wissenschaftliche Forschung sich gesellschaftlich, politisch oder ideologisch vereinnahmen lassen darf.

Aus diesem Konstrukt hat die Autorin ein Buch mit vielen Dialogen entwickelt, das die beiden Männer am Ende ihres Lebens beschreibt. Im Gespräch mit Beckett blicken sie einerseits auf ihr Schaffen zurück. Andererseits verhandeln sie die großen Themen Religion und Wissenschaft - Fragen, die am Ende eines Forscherlebens an Dringlichkeit gewinnen. Es sind zugleich Themen, die die Autorin selbst für wichtig erachtet: "Wir sind umzingelt von Wissenschaftsfeindlichkeit und Rückwärtsgewandtheit", sagt sie. Gerade heute müsse man eine Diskussion über Religion und Wissenschaft und deren Vereinbarkeit führen. Mit klugen Gedanken führt Jerger diesen Disput in ihrem Roman - fiktiv mit Darwin und Marx. Wenn die beiden Denker beim Dinner dann einmal selbst miteinander reden sollen, dann muss man ihnen allerdings attestieren: Da ist irgendwie der Wurm drin.

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