Literatur-Nobelpreis 2009:Der Hunger - nur er frisst immer weiter

Herta Müller erhält den Nobelpreis für Literatur. Sie ist eine Meisterin der schrecklichen Vergegenwärtigung.

Thomas Steinfeld

Es muss jetzt wohl sein, dass sich Leser und literarische Kritik bis auf weiteres von einer lieben Vorstellung trennen: dass der Nobelpreis für Literatur eine Belohnung für die besten Dichter und die besten Werke sei.

Nein, Herta Müller, die - für das deutsche Publikum offenbar überraschender als für das schwedische - in diesem Jahr die höchste und bekannteste literarische Auszeichnung bekommen wird, ist keine schlechte Autorin, überhaupt nicht. Und sie ist, aus guten Gründen, selbstbewusst genug, um zu ertragen, dass auch dieses Mal wieder nach Philip Roth und Tomas Tranströmer gefragt werden wird, nach wirklich großen Literaten also.

Aber es ist, nunmehr für alle sichtbar, so, dass die schwedische Akademie gegenwärtig eine feste Vorstellung davon besitzt, welche Art Dichtkunst sie zu prämieren hat: Weltliteratur, wobei der Akzent nicht auf dem Wort "Literatur", sondern auf der "Welt"liegt.

Herta Müllers Werke sind ganz einer Region verbunden, dem Banat, einer deutschsprachigen Enklave in Rumänien. Das Dorf, die Sprache und die Erfahrung der Diktatur unter diesen besonderen Voraussetzungen bilden die Themen, denen alle ihre wichtigen Werke gelten und zu denen sie immer wieder zurückkehrt. Man kann das für eine Art Starrsinn halten, aber diese Konzentration auf etwas scheinbar eng Begrenztes bildet hier die Voraussetzung eines Werks, das spätestens jetzt, mit dem Nobelpreis, tatsächlich Weltliteratur ist.

Gebrochen durch die Dokumentation von Unterdrückung, Verfolgung, ja Folter, kehrt in diesem Werk ein älteres, kleinteiliges, kulturell vielfach ineinander gewobenes Europa zurück - und das Banat als eine Nahtstelle zwischen zwei oder gar drei Welten, der rumänischen, der österreichisch-ungarischen und der deutschen. In Herta Müller lebt die räumliche Gliederung Europas aus der Zeit vor dem Kalten Krieg fort, und in ihr führt die Schwedische Akademie eine Linie weiter, für die zuletzt Doris Lessing und Jean-Marie Le Clézio standen, auch sie geographisch und kulturell integrierende Schriftsteller, vermittelnde Bewohner von Zwischenwelten.

Für die Welt, aus der die im Jahr 1953 geborene Herta Müller stammt und für die sie unablässig neue Worte findet, ist "Mitteleuropa" die falsche Bezeichnung. Sie ist nicht sentimental, sie sehnt sich nicht nach verlorener Einheit, und sie duldet keine kulturelle Ermäßigung historischer oder politischer Großereignisse. Sie sprach Deutsch, bis sie mit fünfzehn Jahren Rumänisch lernte, sie schlug sich als Übersetzerin und Sprachlehrerin durch.

Sie, deren Mutter Jahre als Zwangsarbeiterin in der Sowjetunion verbringen musste und deren Vater bei der SS gedient hatte, bevor er Lastwagenfahrer wurde, zeichnet sich gegenüber vielen anderen Bewohnern dieser Zwischenwelt durch ihren Ernst und durch ihre Unerbittlichkeit aus. "In der Dorfsprache", schreibt sie einem der Essays, die sie im Jahr 2003 unter dem Titel "Der König verneigt sich und tötet" veröffentlichte, "lagen bei allen Leuten um mich herum die Worte auf den Dingen, die sie bezeichnete. Die Dinge hießen genauso, wie sie waren, und sie waren genauso, wie sie hießen."

Dieser Dorfsprache hat sie, wenngleich sie im Lauf der Zeit unendlich verfeinert worden sein muss, bis auf den heutigen Tag behalten, und auch etwas (nicht heiteres, gleichfalls sehr ernstes) Kindliches hat sie sich bewahrt: den sinnlichen Umgang mit der Sprache, den aufmerksamen Umgang mit Tönen, Nuancen von Klang und Bedeutung.

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Gewiss, historisch betrachtet vertritt Herta Müller eine vergangene Herkunftswelt, und sie repräsentiert auch, da mag inzwischen noch so viel geschehen sein, mit Verfolgung und Exil auch persönlich die Erinnerung an die kommunistische Herrschaft. Im Jahr 1987 verließ sie Rumänien, wo ihre ersten Werke in zensierter Form erschienen waren, und siedelte in die Bundesrepublik um. Es hat dabei etwas Obsessives, wenn sie, auch und gerade in ihren besten Romanen wie dem im Jahr 1994 erschienenen Buch "Herztier", und dem erst in diesem Herbst veröffentlichten Werk "Atemschaukel", in Arbeit nach Arbeit zu diesen Themen zurückkehrt.

Es trifft zu, was der Dichter Mircea Dinescu über sie sagt: Sie sei eine "Aktivistin des Leidens". Aber solche reservelose Schwerarbeit leistet niemand ohne Not. Ein Schmerz muss ihm zugrundeliegen, so groß, dass Körper und Verstand sich konzentrieren: zuerst einen Bogen bilden um die schmerzende Stelle, so als könne man ihn mit einer schützenden Hülle umgeben, und dann - ihn einüben, durch ständige Wiederholung, die Erwartung des Schrecklichen dadurch bekämpfen, dass man es in der Fiktion vorausnimmt, verarbeitet, kanalisiert. Denn so, wie es eine Suche nach Schutz vor dem Schrecklichen gibt, so gibt es auch eine Suche nach Schutz im Schrecklichen.

Daher kommt das Unerbittliche bei Herta Müller. Und deswegen ist sie im persönlichen Umgang zuweilen schwierig: Sie will weder kulturell noch interkulturell vereinnahmt, nicht als Exotin bewundert und nicht von Leuten verstanden werden, die sich nicht verstehen wollen und nicht verstehen können.

Sie besteht auf einer Erfahrung, von der sie weiß, das sie anders ist als die Erfahrung ihrer westlichen Kollegen, Kritiker und Leser. Sie hat schlagende Bilder für diese Differenz gefunden: den davonwackelnden Laufvogel in der Erzählung "Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt'' (1986) zum Beispiel. Und sie ist eine Meisterin der schrecklichen Vergegenwärtigung: in dem Roman "Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet'' (1998) zum Beispiel, der Geschichte eines Verhörs.

Wenn sie erklärt, ihr Maßstab für die Qualität eines Textes bestehe für sie in der Antwort auf die Frage, ob es "zum stummen Irrlauf im Kopf" komme oder nicht, dann spricht sie von genau diesem Unterschied. In mancherlei Weise hat Herta Müller daher für eine jüngere Generation eine ähnliche Funktion in der kollektiven Erinnerung eingenommen, wie sie Günter Grass für eine ältere besitzt: nicht nur eine furchtbare Erinnerung lebendig zu halten, sondern auch immer wieder deren radikale Andersartigkeit zu markieren.

Und dann gibt es Herta Müllers Sprache: hart, klar, manchmal brutal, gelegentlich ins unvermittelt Metaphorische, ins Surreale kippend. "Ich wollte langsam essen'', heißt es zu Beginn von "Atemschaukel", Herta Müllers jüngstem Roman, über den "Hungerengel'', den allgegenwärtigen Begleiter des Ich-Erzählers, "weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß."

Und er frisst immer weiter, auch nachdem er längst aus dem sowjetischen Arbeitslager heimgekehrt war, denn immer ist das Verhungern gegenwärtig. Eigentlich hätte Herta Müller dieses Buch zusammen mit dem Lyriker Oskar Pastior schreiben wollen, einem ebenfalls in die Bundesrepublik emigrierten Siebenbürger Sachsen, der in einer akribisch genau gestalteten, aber ganz und gar surrealen Sprache eine eigene Grammatik der Freiheit gefunden hatte.

Es ist seine Geschichte, die sie erzählt, die Geschichte einer Zwangsarbeit in Fabriken auf der russischen Steppe, eine Geschichte voller Schmerz, Demütigung und Schikane. Auch diese Geschichte ist eine Vergegenwärtigung, auch hier kehrt etwas wieder, was kein Hier und Jetzt mehr hat. Aber sie ist auch, eben weil sie Geschichte ist, der Beginn eines Sich-Ablösens und Sich-Befreiens. Hier tritt offenbar etwas heraus, aus dem Eigenen, dem Lokalen, dem Unmittelbaren in etwas viel Größeres, in die Geschichte der europäischen Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts und ihrer Kriege, in das Allgemeine von Unterdrückung, Diaspora und Emigration.

Es wird Weltliteratur - und wenn Herta Müller die Schwedische Akademie dabei entgegenkommt: um so besser für alle.

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