Nikolaus II.:Warum der letzte Zar unterging

Zar Nikolaus II.

In Russland heute auch von vielen Lenin-Anhängern wieder als Märtyrer verehrt: Zar Nikolaj II. auf einem undatierten Porträtfoto.

(Foto: dpa)

War Nikolaus II. Märtyrer? Oder blutrünstiger Tyrann? Weder noch. Aber ein abergläubischer Antisemit. 100 Jahre nach der Oktoberrevolution zeichnet der Historiker György Dalos ein treffendes Bild.

Rezension von Tim Neshitov

Der letzte Zar geht immer. Das schreibt György Dalos auch gleich in der Einleitung zu seinem Buch "Der letzte Zar". Er erwähnt die unzähligen Bücher über das Haus Romanow, "von klassischen historischen Arbeiten bis hin zu primitiven Kolportagen", auch all die Stumm- und Tonfilme.

Aus der Einleitung wird nicht ganz klar, warum der russlandkundige ungarische Schriftsteller und Historiker nun ein eigenes Buch über Nikolaj II. und seine Familie geschrieben hat. Außer, dass es eben immer geht, und wohl auch, weil die Revolution von 1917 sich zum hundertsten Mal jährt.

Das Buch enthält keine neuen Erkenntnisse, es ist ein Stück Populärwissenschaft. Aber es ist eines jener Bücher, die man gerne liest, weil sie eine wund erzählte, mythologisierte Geschichte frisch und unaufdringlich neu erzählen.

Wer die in Russland in der Massenpsyche schlummernde, gerade mal wieder ausgebrochene Hysterie um Nikolaj alias Nikolaus II. verfolgt, wird dieses schmale Buch besonders schätzen. Der aktuelle Anlass der Hysterie ist ein noch nicht gezeigter, aber schon heftig diskutierter Film von Alexej Utschitel.

Zwei Heilige im Kopf

Das Melodram heißt "Matilda" und schildert - offenbar sogar mit erotischen Szenen! - die Liebesbeziehung zwischen Nikolaj Romanow, noch Thronfolger, und der Ballerina Matilda Kschessinkskaja. Verleumdung, Nestbeschmutzung, Sakrileg: Irgendwie so kann man die Vorwürfe der Zarenverehrer zusammenfassen, die zuletzt einen Brandanschlag auf Utschitels Studio verübt haben.

Unter den Empörten sind erstaunlich viele Sowjetmenschen, die sonst den Zaren- und Massenmörder Lenin verehren, aber seit der Heiligsprechung von Nikolaj und seiner Familie im Jahr 2000 eben mit zwei Heiligen im Kopf leben.

Der bekennende Agnostiker György Dalos, der in den Sechzigerjahren in Moskau Geschichte studierte, schlägt einen ausgewogenen Ton an. Mathilda Kschessinskaja kommt bei ihm gar nicht vor, er konzentriert sich auf Nikolajs Zeit auf dem Zarenthron.

Einerseits kann Dalos mit der Bezeichnung "Märtyrer" wenig anfangen: "Zunächst einmal ist es aus meiner Sicht nicht zulässig, das Ehepaar Romanow, praktizierende Antisemiten, die ihre geistige Nahrung sogar noch in Jekaterinburg (also kurz vor ihrer Hinrichtung im Juli 1918 - Red.) in den 'Protokollen der Weisen von Zion' suchten und fanden, in einer Reihe mit dem Juden Jesus Christus zu nennen."

Andererseits nimmt Dalos den letzten Zaren, quasi rückwirkend, vor der sowjetischen Historiografie in Schutz, die aus dem thronunwilligen, wankelmütigen Nikolaj II. einen blutrünstigen Tyrannen machte - in einer Zeit, als Josef Stalin Zehnmillionen Sowjetmenschen hinrichten oder in Lagern verrotten ließ.

Der Hauptwert dieses Buches liegt aber im sachkundigen Aussortieren. Dalos erzählt den "Untergang des Hauses Romanow", so der Untertitel, auf nur etwas mehr als 200 Seiten. Den Beginn des Untergangs datiert er bereits auf die tragische Krönung in Moskau 1896, bei der mehr als 1300 Menschen auf dem Chodynka-Feld zu Tode getrampelt wurden.

Aversion gegen Japan

Nikolaj, zutiefst gläubig, sah darin ein böses Omen. Bis zur Hinrichtung im Keller in Jekaterinburg werden noch 22 Jahre vergehen, aber die sind bei Dalos auf ein stimmiges chronologisches Mosaik komprimiert (gut geeignet auch für Russlandeinsteiger).

Dalos arbeitet naheliegende Sujets heraus, wie die Hämophilie des Thronfolgers Alexej, die Zwangsfreundschaft Nikolajs zu seinem Cousin und späteren Kriegsgegner Wilhelm II., das rührselige Verhältnis zu seiner deutschen Gattin Alix, oder deren beider Anfälligkeit für den Magnetismus des eitlen Wunderheilers Grigorij Rasputin.

Aber Dalos geht auch auf weniger Bekanntes ein, etwa auf Nikolajs Aversion gegenüber Japan, die bei einer Asienreise im Jahr 1891 begann und mit dem russisch-japanischen Krieg 1904-1905 nicht aufhörte.

In Japan wurde der Zarewitsch, damals 23 Jahre alt, von einem offenbar chauvinistisch verwirrten Samurai angegriffen - zwei Hiebe mit dem Säbel! - und an Hals, Stirn, Ohren und Handgelenk verletzt. Japaner tauchen in Nikolajs Tagebuch fortan als "Makaken" auf. Den Krieg verlor Russland 1905 kläglich, und noch bevor der Friedensvertrag unterzeichnet wurde, begann die erste russische Revolution.

Der Publizist Dalos hält sich in diesem Buch zurück. Es spricht der Historiker Dalos. Aber da, wo der Publizist sich meldet, in den Fußnoten, zerstört er nicht das Mosaik.

Er zieht etwa Parallelen zwischen der Katastrophe von Chodynka, nach der das Zarenpaar auf dem Ball des französischen Botschafters tanzte, und der Katastrophe von Tschernobyl hundert Jahre später, nach der Michail Gorbatschow sich nicht in der Lage sah, die Feierlichkeiten zum 1. Mai abzublasen. Oder 2000: Wladimir Putin setzt seinen Urlaub fort, nachdem das Atom-U-Boot Kursk verunglückt ist.

Schildkröten und Krebse

An einigen wenigen Stellen wünscht man dem Autor ein gründlicheres Lektorat. Etwa als es um Deutschlands Forderung nach einer Konferenz zum freien Handel im Jahr 1905 geht. Deutschland, heißt es, "drohte Frankreich, das sich dagegen sträubte, mit militärischen Maßnahmen, was zum ersten Mal seit dem Krimkrieg eine direkte Konfrontation zwischen europäischen Staaten bedeutet hätte". War der deutsch-französische Krieg 1870-1871 keine direkte Konfrontation gewesen?

Oder die Speisekarte zum Bankett während der Krönungsfeier 1896: Auf der abgebildeten Speisekarte (Seite 23), wunderbar gestaltet vom Künstler Alexander Benois, steht im russischen Original als erster Gang eine Krebssuppe. Im Text heißt es, man habe Schildkrötensuppe serviert. Schildkröten sind Schildkröten, aber Krebse sind Krebse.

György Dalos: Der letzte Zar. Der Untergang des Hauses Romanow. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla. C. H. Beck, München 2017. 231 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 18,99 Euro.

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