Literatur in Indien:Die hässlichen Auswüchse des Regimes

Literatur in Indien: Indische Polizei verhaftet einen Studenten bei einer Demonstration. Auslöser war der Selbstmord eines Studenten.

Indische Polizei verhaftet einen Studenten bei einer Demonstration. Auslöser war der Selbstmord eines Studenten.

(Foto: Chandan Khanna/AFP)

Von außen sieht das Literaturfestival im indischen Jaipur so prächtig aus wie immer. Im Inneren aber brodeln Nationalismus und Meinungsterror - so wie im ganzen Land.

Reportage von Alex Rühle

Vor der Gasse, die zum Festival führt, stehen dieses Jahr etwa 50 Soldaten rum. Wobei sie eher aussehen wie Langzeitarbeitslose, die als Soldaten kostümiert wurden. Ob die bei einem Anschlag wirklich die schlagkräftige Antiterrorgruppe wären, die man in so einem Fall braucht, ist fraglich. Waffen tragen sie jedenfalls keine, aber Uniform ist ja auch schon was.

Auch sonst sehr viel Sicherheit, oder sagen wir: eine so großformatige wie sinnentleerte Inszenierung von Sicherheitsritualen. Am Eingang zum Gelände wurden Metalldetektoren aufgestellt. Die piepsen aber alle nonstop. Viele Besucher gehen entspannt plaudernd um die rostigen Kästen herum. Daneben steht ein Schild, das viel aussagt über indischen Humor: Kindly get yourself frisked. Durchsuchen Sie sich doch einfach selber.

Die Regierung in Delhi hat große Angst vor Anschlägen: Am vergangenen Sonntag war Nationalfeiertag, außerdem kam François Hollande auf Besuch. Und nachdem die Terroristen im November in Paris den Anschlag in Mumbai 2008 als Blaupause genommen haben, diskutieren die Sicherheitsexperten, wie groß nun umgekehrt die Gefahr eines "indischen Paris" ist. Vor Hollandes Ankunft, am Tag, als das Festival eröffnet, gibt es landesweit Verhaftungen und Hausdurchsuchungen, ein Taxifahrer wird in Delhi ermordet. Im Fernsehen schreit ein Moderator: "Das hier ist die mit Abstand größte Gefahr, der wir alle seit Jahren ausgesetzt waren und Sie sind bei uns live dabei! Es kann jeden Moment passieren, bei Ihnen zu Hause, hier im Studio, bitte bleiben Sie dran!"

Zwei aktuelle indische Witze: "Meinungsfreiheit", heißt einer. Der andere: "Demokratie"

Eine ähnliche, wenn auch längst nicht so katastrophenfreudige Nervosität durchpulst dieses Mal das Jaipur Literature Festival. Oberflächlich betrachtet, ist alles so üppig, farbig, wunderschön wie in den Jahren zuvor: die weitläufig dahinschwingenden Gebäude des Diggi Palace, die kunterbuntbeflaggten Zelte auf den Freiflächen, das warme Wetter. Obwohl das Palastensemble wirklich groß ist, platzt das JLF im zwölften Jahr seines Bestehens aus allen Nähten, und wenn gar kein Durchkommen mehr ist, weiß man, ah, da hinten ist wieder einer aus Bollywood eingeflogen.

Wer will, kann hier also einfach fünf Tage lang Superstars aus Film und Fernsehen begaffen. Er kann auch dem literarischen Weltgeist lauschen: Da sitzen dann David Grossman, Colm Tóibín, Margaret Atwood, Sascha Hemon und der sudanesisch-eritreisch-britische Autor Sulaiman Addonia, der lange in Saudi-Arabien lebte (ah, so herrlich, all diese fünffach gepatchworkten Biografien!) auf ein und demselben Podium und sprechen darüber, was manche Bücher zu universell gültigen Texten macht. Und ob nicht Fernsehserien mittlerweile den Roman als zeitgemäße Form, unsere Welt zu beschreiben, abgelöst haben.

Noch interessanter aber ist es, den indischen Autoren zuzuhören. Allein deshalb, weil man das Gefühl hat, dass dieses Festival direkt mit dem zentralen Nervensystem des Subkontinents verbunden ist. Es ist fast schon bizarr, wie Dinge, die hier gesagt werden, ins ganze Land ausstrahlen: Am Samstag schaut der homosexuelle Regisseur und Autor Karan Johar aus Mumbai vorbei. Er sagt, er kenne zwei aktuelle indische Witze, beide seien sehr kurz. Der eine gehe so: "Meinungsfreiheit". Der andere bestehe auch nur aus einem Wort: "Demokratie". Selbst in Bollywood müssten sie ihre Drehbücher jetzt irgendwelchen regierungsamtlichen Stellen unterbreiten, die das Ganze dann umschrieben. Johar wurde nach seinem Wutausbruch von Besuchern im Publikum beleidigt und schon nach wenigen Minuten im Netz antinationaler Umtriebe beschuldigt.

Landesverräter sollten doch endlich nach Pakistan abhauen

Johar ist mit solchen Anfeindungen nicht alleine, kürzlich erst haben die beiden Superstars des indischen Kinos, Aamir Khan und Shah Rukh Khan (die nicht verwandt, aber beide Muslime sind), gegen die extreme Intoleranz und den religiösen Mehrheitsterror gewettert, die im ganzen Land um sich griffen, seit Narendra Modi und seine hindunationalistische Partei BJP an die Macht gekommen seien. Auch sie wurden als Landesverräter beschimpft, sie sollten doch endlich nach Pakistan abhauen.

Die Vergiftung des politischen Diskurses durch die BJP und ihre Vasallen strömte wie ein Gas selbst in die hintersten Ecken des Festivals. Einmal saßen da zwei wunderbare alte Herren in einem kleinen Saal und unterhielten sich eigentlich über die Diversität: Laut Zensus von 2001 gibt es in Indien 122 verschiedene Sprachen. Der Dichter und Literaturkritiker K. Satchidanandan veröffentlicht auf Malayalam, sein Kollege Sitanshu Yashaschandra auf Gujarati. Zwei Sprachen, die jeweils immerhin von 46 respektive 33 Millionen Menschen gesprochen werden. Die beiden aber sprachen davon, wie von Rätoromanisch oder Walisisch, von apokryph vor sich hinkümmernden Dialekten. Was zählt, sind Hindi und Englisch, mehr denn je.

Satchidanandan hat 2000 den Preis der renommierten Sahitya Akademi gewonnen - und hat ihn voriges Jahr zurückgegeben: Zuvor war der Autor M. M. Kalburgi ermordet worden, der in seinen Werken gegen religiösen Fanatismus angeschrieben hatte. Die Akademie hatte nach dem Mord keinen Mucks von sich gegeben. Als daraufhin 40 Autoren ihren Preis zurückgaben, aktivierte die BJP ihren Mob: Modi posierte mit den Organisatoren einer Demonstration gegen Schriftsteller, auf der Sätze skandiert wurden wie "Tretet die verlogenen Schriftsteller mit Stiefeln!"

Satchidanandan sagt in Jaipur, das große Unglück für Indien sei, dass Modi eine einheitliche Kultur wolle, "eine Religion, eine Sprache, eine Wahrheit - das kann nicht gut gehen in diesem Land mit seinen tausend Göttern und hundert Sprachen." Er und 30 andere Autoren sind dabei, eine alternative Schriftstellervereinigung zu gründen, das Indian Cultural Forum. Überflüssig zu sagen, dass auch sie jetzt im Netz als antinationale Nestbeschmutzer beschimpft werden. Und wäre die Sache nicht so ernst, man könnte sich darüber lustig machen, dass seit der Sahitya-Welle das Preiszurückgeben eine Art Volkssport der Eliten wurde: Mehr als 50 Historiker schickten ihre nationalen Preise nach Delhi, und dito mehrere Wissenschaftler.

"Tretet die verlogenen Schriftsteller mit Stiefeln!", skandiert der Mob

Modi hat seinen fanatischen Internettrollen im Herbst eine eigene Party ausgerichtet, Leuten, die laut dem Magazin Caravan "nichts als Onlineterror, Hass und Misogynie verbreiten". Ein beeindruckendes Beispiel für diese Schmutzkampagnen lieferte in Jaipur Barkha Dutt. Sie ist eine Art Oprah Winfrey des indischen Fernsehens, eine Moderatorin, die jeden Abend enorme Einschaltquoten hat. Sie nutzt ihre Talkshow regelmäßig dazu, Modi und seine BJP für ihren intoleranten Kulturkampf anzugreifen und hat soeben ein Buch veröffentlicht, in dem sie die großen politischen Themen aufgreift, Vetternwirtschaft, den religiösen Konflikt zwischen Muslimen und Hindus, Misogynie . . . Auf dem Festival zitierte sie Internetseiten, auf denen "bewiesen" werde, dass sie dreimal mit muslimischen oder gar - Feindbild im Quadrat - pakistanischen Männern verheiratet gewesen sei. Dutt ist immer schon ledig.

Es ist schade, so viel von den hässlichen Auswüchsen des Modi-Regimes reden zu müssen, schließlich gibt es hier wunderbare Panels, allein die Stunde mit Colm Tóibín, dem irischen Autor von "Brooklyn", Armistead Maupin und dem indischen homosexuellen Autor und Übersetzer R. Raj Rao über das Thema Coming-out war dermaßen witzig, offen und herzergreifend - aber auch hier war man dann schnell bei der Politik: Als 2009 das oberste Gericht von Delhi den Paragrafen 377, der Homosexualität seit 1861 unter Gefängnisstrafe gestellt hat, als verfassungswidrig bezeichnete, wagten viele Schwule und Lesben ihr Coming-out. 2013 wurde dieses Urteil aber kassiert - und seit Modi mit seinen moralischen Scharfrichtern im Amt ist, leben all diese Homosexuellen in großer Angst, schließlich, so Rao, könne man in Indien Paragrafen hin und her biegen wie Büroklammern, das Coming-out aber sei "leider eine Einbahnstraße, man kann's danach nicht wieder verheimlichen."

Vom Säureanschlag zur Modekampagne

Der Tonfall, in dem Modis Leute Politik machen, war schön zu studieren, als Amitabh Kant auftrat. Der Wirtschaftsmogul, der mehrere weltweite Imagekampagnen für das "Neue Indien" unter Modi initiiert hat, pflügte durch die Fragen seines Moderators John Elliott wie ein Bagger durch einen Slum in Mumbai, was für bekloppte Fragen, was für ein Sesselfurzer. Elliott hatte die Frage gewagt, wie denn Modi nun all seine Versprechen von Indien als dem neuen China, dem Labor der Zukunft voller Hochgeschwindigkeitszüge und Internetwunder erfüllen wolle. "Mit Start-ups natürlich", antwortete Kant. "Hunderttausende Start-ups werden die Welt in Staunen versetzen. Sie verstehen das natürlich nicht, aber wir werden siegen."

Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, der von seinem Buch "Kapital" mittlerweile 2,2 Millionen Exemplare verkauft hat, pulverisierte dieses Gerede, als er von der strukturellen Ungerechtigkeit und Ungleichheit sprach, ein Thema, für das es vielleicht in keinem anderen Land derart krasses Anschauungsmaterial gibt wie in Indien. Was Indien brauche, sagte er, seien nicht großformatige Internetvisionen, sondern Transparenz, Bildung, Infrastruktur.

Der Ökonom Thomas Piketty sagt, Unberührbare seien nicht nur ein indisches Problem

Gerade erst hat sich in Hyderabad ein 26-jähriger Dalit-Student umgebracht. Die Dalit stehen außerhalb des Kastensystems - früher hießen sie Unberührbare. Rohith Vemula war im Sommer zusammen mit einigen Kommilitonen suspendiert worden, nachdem sie gegen rechtsextremistische Hindu-Studentengruppen protestiert hatten. Sie schliefen seither in Zelten vor dem Campus und waren vor zwei Wochen in den Hungerstreik getreten. Drei Tage vor Beginn des Festivals erhängte sich Vemula. Vorher schrieb er einen Brief an den Universitätspräsidenten, in dem er ihn bat, doch in Zukunft allen Dalit-Studenten zur Inauguration Vitriol und einen Strick zu überreichen. Dieser Abschiedsbrief ist von solcher literarischer Kraft, dass er jetzt in ganz Indien zirkuliert. Und der Fall Vemula führt zu ähnlich heftigen Ausschreitungen wie 2012 der Tod der jungen Jyoti Singh, die von einer Gruppe völlig enthemmter Männer in Delhi zu Tode vergewaltigt worden war.

Piketty erwähnte Vermulas Selbstmord, wobei er geschickt nach Frankreich abbog, um hier nicht als kolonialer Levitenleser dazustehen. "Die Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen ist ja kein innerindisches Problem. Auch wir haben unsere Parias, die Jugendlichen in der Banlieue sind unsere Unberührbaren, sie haben keine Chance auf dem Arbeitsmarkt."

Am Abend, im Hotelaufzug, auf dem Weg zum Abendessen steigt eine junge Frau im dritten Stock zu. "Oh, Sie haben Barkha Dutts Buch gekauft, wie ist es?" - "Ich hab bisher nur das erste Kapitel gelesen. Aufwühlend. Die Gewalt gegen Frauen. Sie schreibt über ihren eigenen Missbrauch." Die junge Frau zuckt mit den Schultern: "Das kennen wir alle. Ich wurde auch von einem Onkel missbraucht als Kind. Es ist einfach immer noch völlig normal hier." - "Oh. Ähm. Aber meinen Sie nicht, dass sich in der öffentlichen Wahrnehmung etwas ändert?" - "Nein." - "Aber nach der Ermordung von Jyoti Singh wurden doch viele Gesetze zum Schutz der Frauen auf den Weg gebracht. Und hätten Sie vor zehn Jahren einfach so in einem Aufzug von Ihrer Vergewaltigung erzählt?" - "Wahrscheinlich nicht. Aber der Mörder von Singh, der ihr mit einer Eisenstange die Eingeweide rausgeholt hat, ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Und Missbrauch und Vergewaltigung innerhalb der Ehe ist hier immer noch nicht verboten. That's India. Good night." Dann schreitet sie raus in die Dunkelheit, stolz, aufrecht und sehr wütend.

Im Hotelrestaurant lag dann eine indische Zeitschrift aus. Darin eine Modestrecke mit Laxmi Saa. Saa wies vor zehn Jahren einen Verehrer ab, der ihr daraufhin Säure ins Gesicht kippte. Sie war damals 15 und ist seither völlig entstellt. Jetzt ist sie immerhin das Gesicht einer großen Modekampagne. That's India.

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