Literatur:Im Raumschiff der gefrorenen Seelen

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Heute wird das neue Literaturmuseum in Marbach eröffnet. Seine spektakuläre Präsentation kehrt das Verhältnis von Werk und Manuskript um.

Thomas Steinfeld

Wenn sich die schweren hölzernen Türen vor dem großen Saal im neuen Literaturmuseum der Moderne öffnen, steht der Besucher vor einem unerwarteten Anblick: Der Raum ist hoch und fensterlos, die Decke reflektiert nur wenig Licht. Die Wände sind mit dunklem Holz verkleidet. Durch den Raum ziehen sich vier jeweils dreißig Meter lange, ganz und gar transparente Vitrinen, in fünf Ebenen, alle vielfach unterteilt, so dass sich die Glasflächen, illuminiert durch Hunderte von kleinen, vertikal montierten Stableuchten, unendlich oft ineinander spiegeln.

Die Maschine eines lichtgetriebenen Raumschiffs könnte so aussehen, oder die Halle, in dem die Schneekönigin die gefrorenen Seelen ihrer Opfer lagert, bei fünfundfünfzig Prozent Luftfeuchtigkeit, fünfzig Lux Lichtstärke und einer Temperatur von achtzehn Grad - die sich im dünnen Hemd eines milden Frühlingstags bald schon anfühlen, als habe man einen Kühlschrank betreten.

Am heutigen Dienstag übergibt Bundespräsident Horst Köhler den neuen Bau und die neue Dauerausstellung der Öffentlichkeit. Er eröffnet ein Museum, wie es auf der Welt noch keines gibt. Wussten aber die Verantwortlichen des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, was sie taten, als sie vor fünf Jahren den Bau dieses Museums und die Einrichtung einer solchen Ausstellung beschlossen und David Chipperfield mit der Architektur beauftragten? Hatten sie eine Vorstellung davon, dass dieser Bau und seine Darbietungstechnik den Umgang mit den Exponaten einer Literaturausstellung auf eine völlig neue Grundlage stellen würden?

Gewiss, hier finden sich immer noch dieselben Gegenstände, die man in jeder beliebigen Ausstellung zu Leben und Werk eines Schriftstellers finden könnte: das Manuskript zum Gedicht "Ach, das Erhabene" von Gottfried Benn, auf der Rückseite einer Speisekarte notiert, den Führerschein von Hans Blumenberg mit einer der beiden Photographien, die es von diesem Philosophen gibt, einen Brief von Thomas Gottschalk an Marcel Reich-Ranicki. Und doch - dieser Raum, dieses Glas, dieses Licht verändern jedes einzelne dieser Objekte. Sie sind nicht mehr Illustrationen einer anderswo, außerhalb der Ausstellung, im literarischen Werk und dessen Rezeption, vorhandenen Bedeutung. Sie sind diese Bedeutung selbst.

Im Spiegel der Exponate

Dreizehnhundert Exponate befinden sich in diesem Saal. In jeder der langen Vitrinen liegen sie aufgereiht in chronologischer Folge, beginnend mit dem Taufkleid von Thomas Mann aus dem Jahr 1875. Jeweils eine Vitrine ist einem Genre des Sammelns zugeordnet: zuerst die Manuskripte, dann die Bücher, dahinter die Briefe und hinten die Varia, die "Lebensdokumente aller Art", so dass man der Geschichte der deutschsprachigen Literatur folgen kann, während man gleichzeitig zwischen Leben und Werk der Dichter wechselt, je nachdem, wie Neugier und Laune gerade spielen.

Glas und Beleuchtung erlauben darüber hinaus, jedes Exponat von oben und von unten zu betrachten. Die oben liegenden Gegenstände spiegeln sich gar in einer quer eingelegten Scheibe, so dass man, wenn man von vorne schaut, auch eine Rückansicht des Objekts vor Augen hat.

Die Wirkung ist frappant: In einer traditionell dargebotenen literarischen Ausstellung werden, neben den üblichen Utensilien zu Leben und Charakter eines Dichters, zu Erich Kästners Aktentasche, Karl Wolfskehls Medikamenten und allerhand Brillen und Gehstöcken, vor allem beschriebene Papierbögen gezeigt, flach daliegende Blätter. Ihr Wert ist in erster Linie dokumentarisch.

Die neue Marbacher Ausstellung verändert diesen Charakter einer literarischen Ausstellung von Grund auf: Selbst ein dünner Zettel ist hier Materie, besitzt Tiefe, Struktur, eine eigene Dinglichkeit. Im Literaturmuseum der Moderne ist alles Masse, alles Körper - so sehr, dass selbst die Schrift zurückgenommen erscheint ins einfache Dasein, nichts anderes mehr zu beanspruchen scheint, als in diesem Saal der gefrorenen Seelen aufbewahrt und angeschaut zu werden.

Im neunzehnten Jahrhundert wunderten sich die Schriftsteller noch laut darüber, welche Bedeutung die Schriftgelehrten plötzlich den Zeugnissen der Entstehung und des Werdens eines Werkes beimaßen. Gottfried Benns ärztlicher Zwischenruf, dass die Germanisten, nicht zufrieden mit dem Kind, nunmehr auch die Plazenta haben wollten, verhallte.

Längst hatte eine neuere Philologie nicht nur die fast theologische Bedeutsamkeit des Entwurfs und des Manuskripts erfunden, sondern auch die Semantik des verworfenen, des beiseitegelegten, des vernichteten Texts erschlossen - und darüber hinaus die Zeichenhaftigkeit der tausend Dinge des praktischen und intellektuellen Lebens, die das Entstehen auch eines jeden literarischen Werkes begleiten.

Im Namen der Literatur wurde so ein weites Territorium jenseits aller poetischen Werke entdeckt, ein wildes Bleistiftgebiet, eine unendliche Registratur und Rumpelkammer, die nicht aufhört, zu wachsen. Das Ende in der wundersamen Vermehrung der Quellen scheint noch lange nicht gefunden - schon weil der Status des zu Sammelnden sich beständig verändert und immer neue Dinge hinzugezählt werden.

Was eine ältere Generation noch als belangloses Zeug abtat, mag später, beflügelt durch einen besonders inspirierten oder auch bösen Blick auf die Schlacken des Sinns, eine andere Generation zu Gedankengängen und Spekulationen inspirieren. Und ist das Deutsche Literaturarchiv in Marbach nicht das beste Beispiel für dieses nicht aufhörende Wachstum? Wie es begann mit der wilhelminischen Halle über dem Fluss, wie dann in den siebziger Jahren das heutige Archiv aus Waschbeton hinzukam, wie weitergebaut werden musste, weil die Bestände immer größer und die Arbeit immer mehr wurden?

Das neue Museum ist indessen viel mehr als eine Komplettierung dessen, was Marbach bisher schon war. Es ist viel mehr als bloß eine großartige Erweiterung der in Marbach lange schon genutzten Möglichkeit, über eine Ausstellung den Zugang zum Archiv zu erleichtern und die Archivarbeit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Es hebt die feine, mindestens über dreißig Jahre existierende, aber nie ausgesprochene Balance auf, die es in Marbach zwischen Archiv und Ausstellung gab. Fein, edel und zurückhaltend sieht der neue Bau aus, wenn man vom Archiv hinüberschaut, aber die gewaltigen Hallen im unteren Stockwerk besitzen eine Kraft, die das Gleichgewicht von Sammeln und Zeigen ins Kippen bringen muss - das Museum wirkt in das Archiv hinein, es unterwirft die Sammlung den Kriterien ihrer öffentlichen Darbietung.

Deswegen ist es so bedeutsam, in welchem Maße die jetzt eröffnete Dauerausstellung auf die Materialität ihrer Exponate setzt. Denn war es bisher so gewesen, dass eine Ausstellung im Schiller-Museum Anlass war für eine Exkursion ins Archiv, dass eine solche Exkursion ein "Marbacher Magazin" inspirierte und dass Ausstellung und Publikation miteinander wirkten, um Leben und Werk eines Schriftstellers anschaulicher und verständlicher werden zu lassen, so sind die Verhältnisse nun umgekehrt: Jetzt ist es das Exponat, das nach einem Kommentar verlangt. Der Katalog der neuen Ausstellung, erschienen unter dem Titel "Denkbilder und Schaustücke", ist dann auch die erste Veröffentlichung, die dieses neue Mandat ernst nimmt. Er enthält eine ganze Reihe von freien, literarisierenden Kommentaren aus Dichterhand zu einzelnen Ausstellungsstücken: Durs Grünbein schreibt über das Manuskript von Rilkes "Das Karussell", Brigitte Kronauer über Kafkas erste Streichung im "Proceß", Robert Gernhardt über Peter Rühmkorfs "Auffangpapiere".

Das Original über dem Neckar

Das veröffentlichte Werk, das einen Schriftsteller überhaupt erst zu einem solchen hat werden lassen, tritt angesichts der geheimen Geschichte der deutschen Literatur, die dieses Museum jetzt erzählt, in den Hintergrund. Was bedeutet es, wenn wir erkennen, wie überaus ordentlich W. G. Sebald das Manuskript und die Photographien zu "Austerlitz" in einem Kasten aus Karton ordnete? Was wissen wir, wenn wir sehen, dass Thomas Strittmatter auf dem Papier einer Zigarettenschachtel schrieb? Was immer jetzt in diesem Saal liegt, wirkt, als wäre es das eigentliche Original. Hier, auf diesem Hügel oberhalb des Neckar, wird eine Welt gezeigt, in der sich alles zu Literatur fügt, hier ist der Ort, an dem die Literatur zu sich selbst kommt - und fast ist es, als ob es außerhalb dieser Hallen keine mehr gäbe.

Die Geschichte der jüngsten deutschsprachigen Literatur wird von nun an einen zentralen Ort haben. Große Literaturarchive gibt es auch anderswo, in Berlin oder Weimar. Ein so spektakuläres Literaturmuseum gibt es nur in Marbach. Es ist beides zugleich: höchster Anspruch auf Geltung von Literatur und erste Beschränkung der schieren Masse des Überlieferten zugleich. Denn das Archiv wird weiter wachsen, das Museum nicht.

Der Geist des Klassizismus, aus dem es erbaut wurde, weht auch im Innern. Er unterwirft die Bestände des Archivs einer strengen Auswahl. Deren Gesetze aber formuliert nicht mehr nur die Philologie, und nicht die Archivare schreiben die Kommentare zu den Exponaten, sondern zeitgenössische Dichter. In diesem ersten großen Literaturmuseum der Deutschen hat sich der Ausstellungswert vom wissenschaftlichen Wert, die Schauseite des Archivs von dessen innerer Logik emanzipiert.

Deutsches Literaturarchiv Marbach, Tel.: 07144-8480. Ab 7.Juni Di. bis So. 10 bis 18 Uhr, Mi. 10 - 20 Uhr.

© SZ vom 6.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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