Literatur:Heinrich Bölls Werk ist ein Fenster zur BRD

Heinrich Böll

Heinrich Böll wäre am 21. Dezember 100 Jahre alt geworden.

(Foto: dpa)

Vor genau hundert Jahren wurde der große Schriftsteller geboren. Wer ihn heute liest, kann viel lernen über eine Welt, die langsam in die Vergessenheit rückt.

Kommentar von Lothar Müller

Als Heinrich Böll im Juli 1985 starb, stand die Mauer noch, und niemand wusste, dass schon wenige Jahre später die Bonner Republik und die DDR an ihr Ende kommen würden. Jetzt, an seinem hundertsten Geburtstag an diesem 21. Dezember, ist der Rückblick auf ihn und sein Werk zugleich ein Rückblick auf die langsam in die Distanz rückende alte Bundesrepublik, auf ihr rheinisch-katholisches Machtzentrum, auf die Jahrzehnte zwischen Wiederaufbau und Nachrüstungsdebatte, auf die Kanzlerschaften von Adenauer bis Schmidt. Man kann von Böll sehr viel über diese Welt lernen.

Nach seinem Tod entstand die Legende, er sei doch nur der harmlose Mensch von Köln gewesen. Die hat ihm sehr geschadet, sie hat zu der Verachtung beigetragen, die er bei manchen seiner Schriftstellerkollegen auf sich zog, die ihn als großen Moralisten mit einem eher unbedeutenden Werk verspotteten, als einen Lokalheiligen mit dem Heiligenschein des Literaturnobelpreises. Ja, es gibt sentimentale Seiten bei Heinrich Böll, die ästhetische Radikalität Arno Schmidts besaß er nicht. Aber man muss nur "Gruppenbild mit Dame" (1971) lesen, diesen durchtriebenen, ins Gewand einer kühl-ironischen Recherche gehüllten Roman über eine Deutsche, die in Deutschland zur Außenseiterin wird, und schon verfliegt die Legende seiner ästhetischen Harmlosigkeit. In seinen Kriegsheimkehrern und ungeschoren davonkommenden Ex-Nazis, in seinen Trümmerfrauen, in seinen Häusern und Wohnungen nistet jene "BRD noir", die derzeit von jüngeren Autoren wiederentdeckt wird. Diese dunkle, von Ängsten, Wahnvorstellungen und Depressionen durchzogene Seite der alten Bundesrepublik kannte nicht nur die Verzweiflung und die Erlösungssehnsucht, sondern auch den Hass.

Der Chronist Westdeutschlands, geboren am 21. Dezember 1917

Aus dieser Welt ist der Moralist Heinrich Böll hervorgegangen. Er konnte den Predigerton, aber zur öffentlichen Instanz wurde er durch Schärfe, Angriff, Polemik. Der Erzähler Böll mochte den ästhetischen Radikalismus scheuen, der Publizist und öffentlich agierende Böll konnte, wenn er katholische Kirche, Springer-Presse oder Nachrüstung attackierte, radikal sein, konnte fluchen und verfluchen. "Verhetzung, Lüge, Dreck" warf er der Bild-Zeitung im Spiegel über die Baader-Meinhof-Gruppe vom Januar 1972 vor. Und sah sich dann - obwohl er den Krieg Ulrike Meinhofs gegen die Gesellschaft für sinnlos erklärt hatte - dem Vorwurf ausgesetzt, den Terror zu verharmlosen oder gar zu befürworten. Bis zum Bundesverfassungsgericht musste Böll gehen, als er den Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen wollte, er habe den "Boden der Gewalt durch den Ungeist der Sympathie mit den Gewalttätern gedüngt". Erst kürzlich ist ein Brief Bölls an den damaligen RAF-Terroristen (und heutigen Neonazi) Horst Mahler aufgetaucht, in dem er von ihm den Verzicht auf Gewalt forderte.

Wenn Böll Einspruch gegen die Zuschreibung auch solcher Taten an die RAF einlegte, die ihr noch nicht nachgewiesen waren, war dies alles andere als eine Art Sympathieerklärung für die Mörder. Es war als Appell an den Rechtsstaat formuliert, auch in der Abwehr des Terrors Rechtsstaat zu bleiben. Die Schärfe und Radikalität des Einspruchs entstammten aber erkennbar der ältesten Schicht seines Werks: Er maß den Umgang mit den Terroristen an der Nichtverurteilung vieler NS-Täter. "Wie wär's, wenn Herr XY Zimmermann einen der noch immer gesuchten Naziverbrecher in der heiligen Krimistunde suchen ließe?", fragte er mit Blick auf den Gründer der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY ungelöst".

Die Kompromisslosigkeit, mit der Böll als öffentliche Instanz agierte, hatte eine internationale Komponente. Für Autorenrechte trat er nicht nur im Innern ein, wo er "das Ende der Bescheidenheit" verlangte. Böll, der in der DDR am meisten verlegte westdeutsche Autor, wurde dort nach 1975 für fast ein Jahrzehnt kaum publiziert. Er hatte sich in der Sowjetunion durch seine Freundschaften mit den Dissidenten Andrej Sacharow und Lew Kopelew unbeliebt gemacht, und dadurch, dass er 1974 den ausgewiesenen Alexander Solschenizyn, einen weiteren Schriftsteller, als Gast in sein Sommerhaus aufnahm. In Bölls Romanen sind die Deutschen oft nicht mit sich selbst allein. Leni Pfeiffer in "Gruppenbild mit Dame" hat einen Sohn von einem Russen. Und Türken gibt es in Bölls Bundesrepublik auch.

In den vergangenen Jahrzehnten erschien in manchen Rückblicken die alte Bundesrepublik als langweilige, stabile, undramatische Gesellschaft, in der erst mit den Umbrüchen nach 1989 die welthistorische Turbulenz einbrach. Werk und Person Heinrich Bölls zeigen die andere Seite, die alte Bundesrepublik als Feld von Kontroversen und Krisen.

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