Literatur:Grimmiger Spötter

Josef Ruederer, einst ein in München berühmter Schriftsteller, ist heute fast vergessen. Zum 100. Todestag ist eine Erzählung wieder erschienen

Von Wolfgang Görl

Als man seinen Leichnam zur Einäscherung auf den Ostfriedhof trug, zwei Tage nach seinem Tod am 20. Oktober 1915, war ein großer Teil der besseren Münchner Gesellschaft zugegen, darunter Oberbürgermeister Wilhelm von Borscht und Polizeipräsident Carl von Grundherr, diverse Literaten, Theaterleute, Kunstmaler, Professoren sowie - ganz wichtig in der Bierstadt - der Generaldirektor der Löwenbrauerei. München nahm Abschied von Josef Ruederer, der in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zu den wichtigsten Schriftstellern der Stadt gezählt hatte, von den einen geachtet, von anderen bekrittelt und beschimpft. Nach seinem Tod verblasste Ruederers Ruhm erstaunlich schnell, und heute kennen nur noch wenige Literaturfreunde seine Romane, Erzählungen, Satiren und Theaterstücke. Allenfalls als Geheimtipp schwirrt er, Ruederer, durch die literarische Szene, als ein Autor, bei dem man allerhand Aufschlussreiches über die Eigenheiten der Münchner Gesellschaft des 19. Jahrhunderts erfahren kann.

Ein fulminantes Beispiel für den klaren Blick, mit dem Ruederer die Parvenüs und Gschaftlhuber seiner Zeit durchschaute, ist die Erzählung "Das Grab des Herrn Schefbeck", die soeben in einer von Claudia Denk und Michael Stephan, dem Leiter des Stadtarchivs, betreuten Ausgabe im Allitera-Verlag wieder erschienen ist. Wer in die Abgründe dieser Geschichte vordringen möchte, tut gut daran, das Buch in die Hand zu nehmen, über den Alten Südlichen Friedhof zu promenieren und dort die Erläuterungen Claudia Denks zu lesen. Der beste Ort dafür ist die Arkadengruft Nr. 76 auf dem Campo Santo, über der ein protzig die Antike beschwörendes Grabmal aus weißem Marmor vom Reichtum des Bestatteten kündet.

Hier, in der Nekropole der Münchner Erlauchten des 19. Jahrhunderts, ruhte einst der Großhändler Georg Lorenz, der im März 1901 das Zeitliche gesegnet hat. Lange währte die Totenruhe nicht, denn da gab es ja noch die junge Witwe Josefine, und was diese zwei Jahre nach dem Ableben ihres Gatten unternahm, entwickelte sich zu einem veritablen Skandal, den die Presse zum Gaudium des klatschsüchtigen Publikums genüsslich ausweidete. Frau Lorenz hatte nämlich keine Lust, als trauernde Witwe zu versauern; im Gegenteil, sie vergnügte sich in Nizza und im Casino von Monte Carlo, bis das Erbe verjubelt war. Um das süße Leben fortzusetzen, war die Dame gezwungen, die prestigeträchtige Grabstätte für 6000 Mark an die Witwe des königlichen Kämmerers Paul von Cramon zu verkaufen. Georg Lorenz' sterbliche Überreste ließ sie in ein Reihengrab auf dem Ostfriedhof verfrachten.

Es ist eine tolle Geschichte, und sie diente, das hat Claudia Denk herausgefunden, Ruederer als Stoff für seine Schefbeck-Erzählung. Dieser Michael Karl Borromäus Schefbeck ist wie sein reales Vorbild ein erfolgreicher Geschäftsmann, doch zu seinem Verdruss rümpfen die wirklich noblen Kreise, die "ganz Gewappelten", die "höchst Raffinierten", über ihn, den Wurstfabrikanten, eher pikiert die Nase. Um diesen Makel wett zu machen und es den feinen Herrschaften heimzuzahlen, erwirbt er schon zu Lebzeiten eine Grabstelle auf dem Campo Santo, den König Ludwig I. als Beerdigungs- und Gedenkstätte für die Crème de la Crème vorgesehen hat. Dort, wo die Allernobelsten zur letzten Ruhe liegen, genau dort, im vornehmsten Teil des Friedhofs, will auch er bestattet sein: "Auf die Südseite mochte er nicht; da lagen die Großindustriellen, die Seifensieder, die Bierbrauer, er wollte zum Westen hinüber, mitten hinein in die miserable Bagage, die ihn boykottiert hatte. Grad extra."

Literatur: Das Grab, um das es in Josef Ruederers Erzählung geht, kann bis heute auf dem Alten Südfriedhof besichtigt werden.

Das Grab, um das es in Josef Ruederers Erzählung geht, kann bis heute auf dem Alten Südfriedhof besichtigt werden.

(Foto: Robert Haas)

Ruederer erzählt die Geschichte weitgehend aus der Perspektive des beim Tarock im Wirtshaus, mitten im schönsten Herzsolo gestorbenen Schefbeck, der, obwohl tot im Sarg liegend, alles mitbekommt, was um ihn vorgeht. Am Ende muss auch er machtlos zur Kenntnis nehmen, wie seine schöne junge Frau Olly, die er sich nach dem Tod der ersten Gattin als Schmuckstück zugelegt hat, das illustre Grab verkauft und seinen Leichnam auf dem Ostfriedhof vergraben lässt - nicht, weil sie, wie Josefine Lorenz, das Geld verprasst hat, sondern weil Schefbeck statt eines Vermögens jede Menge Schulden hinterließ.

Ruederers herrliche Gesellschaftssatire schildert in unbarmherziger Schärfe, wie die oft unkultivierten, aber umso geschäftstüchtigeren Emporkömmlinge der Prinzregentenzeit sich anschicken, die alten, aristokratisch geprägten Eliten zu verdrängen. Dabei sind sich Neureiche wie Schefbeck nicht zu blöd, den glanzvollen Lebensstil des Adels nachzuäffen; jeder soll sehen, und sei es auf dem Friedhof, dass auch ein Wurstfabrikant die Verherrlichung in marmornem Pomp verdient.

Josef Ruederer kennt seine Pappenheimer. Der Schriftsteller, geboren am 15. Oktober 1861 im elterlichen Haus am Rindermarkt, ist der Spross einer Familie, die, aus dem Dachauer Hinterland stammend, durch clevere Grundstücksspekulation in München zu Geld gekommen ist. Ruederers Vater gehörte zum Großbürgertum, neben anderen lukrativen Tätigkeiten saß er im Aufsichtsrat zweier Banken und war Mitglied im Gremium der Münchner Gemeindebevollmächtigten. Sein Sohn, der Josef, absolvierte nach dem Abitur zwar eine kaufmännische Ausbildung, doch war er als Geschäftsmann eine Niete. Aber er hatte ja auch anderes im Sinn. Er wollte Schriftsteller werden, was in aller Regel zu einem bescheidenen Lebensstil zwang. Ruederer hingegen war nach dem Tod des Vaters aller Geldsorgen ledig. Das Erbe war üppig genug, dass er sich eine stattliche neubarocke Villa in Bogenhausen leisten konnte.

Die großbürgerliche Aura, die Ruederer umflorte, hatte zur Folge, dass ihn die Künstler der Schwabinger Boheme nie so richtig als einen der ihren empfanden. Da half es auch wenig, dass er sich in satirischen Theaterstücken wie der "Fahnenweihe" (1895) über die Doppelmoral und Profitgier in einem aufstrebenden Fremdenverkehrsort lustig machte, dass er in der Komödie "Die Morgenröte" (1904) die königliche Affäre um Lola Montez und den damit verbundenen Aufruhr aufspießte oder dass er, grimmiger Verehrer seiner Heimat, im "München"-Buch von 1907 ausgewählte Gehässigkeiten über Gschaftlhuber, Frömmler und, ja, auch über Kollegen verbreitete. Zwar trieb er sich, bevorzugt mit dem Maler Lovis Corinth, gerne in Boheme-Kneipen herum, doch da er kaum einem literarischen Streit aus dem Weg ging, verlor er einen Freund nach dem anderen. Der Schriftsteller Max Halbe, anfangs ein guter Kumpel, urteilte in seinen Memoiren: "Ruederer stand eigentlich in einer fortwährenden Opposition gegen jeden und jedes; nicht zuletzt auch gegen sich selbst."

Literatur: Von Lovis Corinth porträtiert: der Schriftsteller Josef Ruederer.

Von Lovis Corinth porträtiert: der Schriftsteller Josef Ruederer.

(Foto: oh)

Sein schärfster Rivale war Ludwig Thoma, zumal der auch das Feld der bayerischen Literatur beackerte. Die Fehde befeuert hat unter anderem der Prozess um Georg Queris volkskundliches Buch "Kraftbayrisch", bei dem Ruederer, der als Mitglied des Münchner Zensurbeirats ohnehin im Ruf eines reaktionären Obrigkeitsdieners stand, ein kritisches Gutachten vortrug, während Thoma das zunächst konfiszierte Werk Queris verteidigte. "Wir mochten einander nicht", schrieb Thoma in seinen Erinnerungen, und fuhr fort: "Er hatte die Ansichten eines allem Ländlichen ferne stehenden Städters, und er war in der Art zu urteilen und sein Urteil zu äußern ein waschechter Münchner, so wenig er auch dafür gelten wollte."

Ein waschechter Münchner, der seine Stadt liebte und sie vielleicht gerade deshalb immer wieder mit Spott überzog, war Josef Ruederer gewiss. In seinem postum erschienenen Roman "Das Erwachen", dem ersten Teil einer unvollendet gebliebenen Romantetralogie, erzählt er die Geschichte seiner Familie, die mit der Kutschfahrt der Großeltern von Dachau nach München beginnt, wo die Oma keineswegs ehrfürchtig die Residenz betrachtet, sondern kopfschüttelnd ausruft: "Kosten muss das was!" Wer erfahren will, wie die Münchner in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelebt haben, was sie bewegt und beschäftigt hat, findet in diesem Roman, der ganz in der Tradition des Naturalismus steht, jede Menge Stoff.

Es wird Zeit, dass sich die Münchner der Gegenwart diesem zu Unrecht vergessenen Autor wieder nähern - und sei es über einen Besuch auf dem Alten Südfriedhof, wo auch das Grab seiner Ahnen zu besichtigen ist. Aber Achtung: Ruederers Grabstätte befindet sich auf dem Waldfriedhof.

Buchpräsentation am Dienstag, 20. Oktober, 20 Uhr, Stadtarchiv München, Winzererstraße 68; Anmeldung unter lesung@allitera.de

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