Literatur:Ein Urlaub ohne Bücher ist möglich, aber sinnlos

Literatur: Sommerzeit ist Lesezeit - und die Wahl der Urlaubslektüre mindestens genauso wichtig, wie die des Urlaubsortes.

Sommerzeit ist Lesezeit - und die Wahl der Urlaubslektüre mindestens genauso wichtig, wie die des Urlaubsortes.

(Foto: Jörn Kaspuhl)

Deshalb gibt es hier 21 Lektüreempfehlungen - von Paul Auster über Tana French bis David Foster Wallace.

Von SZ-Redakteuren

Hari Kunzru: White Tears

Es gibt Bücher, in denen man sich zu Hause fühlt. Hari Kunzrus "White Tears" schafft das mit seinen dichten Atmosphären. Der britische New Yorker erzählt vom Außenseiter Seth und dem Kind reicher Eltern, Carter, die nach dem College nach New York ziehen. Dort werden sie wegen ihres enzyklopädischen Popwissens erfolgreiche Musikproduzenten. Die Suche nach einem Blues-Song führt dann auf eine düstere Reise in die Südstaaten. "White Tears" könnte mit Nick Hornbys "High Fidelity" und Michael Chabons "Telegraph Avenue" so etwas wie eine Plattensammlerroman-Trilogie bilden. Es geht auch bei Kunzru um mehr als um Pop. Er analysiert die wachsende Ungleichheit, den Mechanismus der kulturellen Aneignung und die Nostalgie als Fluchtweg aus der Kälte der digitalen Welt. Als virtuoser Erzähler belässt er die großen gesellschaftlichen Strömungen im Subtext. Und weil er die Popkultur über Klänge und Gesten beschreibt und nicht in die Banalitätsfalle tappt, konkrete Namen zu nennen, ist "White Tears" ein ziemlich guter Gegenwartsroman geworden. (Andrian Kreye)

Hari Kunzru: White Tears. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Liebeskind, München 2017. 352 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.

Tana French: Gefrorener Schrei

Antoinette Conway ist die Neue bei der Dubliner Mordkommission. Jung, stark, immer wütend, ein Tier von einer Frau. Verbiestert und naseweis, finden ihre Kollegen und machen ihr das Leben zur Hölle. Nie bekommt sie die Serienmordfälle, immer nur die traurigen Opfer häuslicher Gewalt. Bis sie im Morgengrauen in einer Reihenhaussiedlung eine junge, blonde Leiche begutachtet, die ihr irgendwie bekannt vorkommt. Der scheinbare Mord aus Leidenschaft entpuppt sich als etwas Düsteres, die Spur führt direkt in Conways Umfeld. Kann jemand, der so neurotisch ist wie sie, sich selbst über den Weg trauen? Die perfekte Lektüre für laue Terrassenabende und durchlesene Gartennachmittage. (Meredith Haaf)

Tana French: Gefrorener Schrei. Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 656 Seiten, 16,99 Euro.

Stephan Lohse: Ein fauler Gott

Plötzlich und auf rätselhafte Weise stirbt der achtjährige Jonas. Für seine Mutter Ruth und seinen elfjährigen Bruder Ben bricht ihre Welt zusammen. Nichts kann trösten, sie einander auch oft nicht. Gott, der nach Bens Meinung ein fauler Gott sein muss, erst recht nicht. Das Buch ist thematisch schwere Kost, aber es erschlägt einen nicht; es wird auch nie kitschig, es erzählt einfühlsam, sehr genau und aufmerksam für Nuancen, bisweilen anekdotisch im Zeitkolorit der Siebzigerjahre. Trotz der tieftraurigen Geschichte lacht man beim Lesen immer wieder laut auf. Man hört Ben und seinen Freunden in ihren Gesprächen und durchaus weisen Weltdeutungen zu - und gluckst und ist gerührt. Es geht um den Tod, das Erwachsenwerden, die ersten erotischen Erfahrungen, Jungsfreundschaften. Und Gott? Man liest eine Auseinandersetzung mit der Frage nach Gott, in der sich der Junge entwickelt. Sehr behutsam wird man darauf gelenkt, dass die Mutter lebensmüde wird. Am Ende wird sie von ihrem Sohn und seiner unverwüstlichen Lebensenergie gerettet. (Heribert Prantl)

Stephan Lohse: Ein fauler Gott. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2017. 330 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.

David Foster Wallace: Der große rote Sohn

Glossar (Achtung, es folgt Pornojargon und schön ist der nun nicht, aber essenziell, um den Ton dieses großartigen kleinen Buches zu erfassen): Ein Steher ist ein "verlässlich potenter männlicher Darsteller". Einer, der jederzeit einen Ständer, also "eine kamerataugliche Erektion", zustande (sic.) bringt. Warten auf den Steher ist immer nötig, wenn ihm das nicht gelingt. Hier kann Fluffen helfen, was "eine nicht gefilmte orale Aktivität" bezeichnet, "die den Ständer eines Stehers anregen, erhalten oder verstärken soll." Noch da? Dann eilig dieses wunderbare Buch besorgen. David Foster Wallace besucht darin die aVideo News Awards" - die Oscars der Pornoindustrie. Und was er 1998 vom "Großen roten Sohn" Hollywoods mitbringt, ist eine seltsam aktuelle Reportage (mit ausufernden Fußnoten) - brillant und überraschend liebevoll beobachtet und sehr, sehr lustig. Eine Übung enthält das Buch auch: "Verwenden Sie mindestes acht der vorgenannten Begriffe in einem klar gegliederten englischen Satz." Die Musterlösung ist schauderhaft. Und rührend. (Jakob Biazza)

David Foster Wallace: Der große rote Sohn. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2017. 112 Seiten, 7,99 Euro. E-Book 7,99 Euro.

Jarett Kobek: Ich hasse dieses Internet

Es ist nicht so, wie Sie denken. Dieses Buch handelt zwar vom Internet, hauptsächlich aber von ein paar Typen aus San Francisco, die Comics zeichnen, aus Versehen Kinder zeugen, sich in des Henkers schöne Tochter verlieben oder inspiriert von Jonathan Franzen schlechte Bücher schreiben, mit Titeln wie "Dampfend heißer Stahl". Die üblichen Sachen, nur treffen sie dabei recht gut gelaunt und sportlich auf die Web-Ökonomie, alt gewordene Hippies, Turbo-Gentrifizierung und die Mechanik von Twitter. Ach so, Ayn Rand kommt auch vor. Seit Jack Kerouac ist kein Buch mehr so entschlossen in die Maschine, also in den Laptop gehauen worden. Kobek nimmt irre ungerührt die Saga vom digitalen Fortschritt auseinander. Sie werden nach der Lektüre vielleicht, wie Adeline, J. Karacehennem und die anderen Helden Kobeks, einfach aus Spaß ein paar Wörter für sich und Ihre Freunde erfinden und künftig Einhörnern misstrauen, wenn sie welchen begegnen. Sie werden, glauben Sie es, von sich selbst überrascht sein, sich also wunderbar amüsieren. (Claudia Tieschky)

Jarett Kobek: Ich hasse dieses Internet. Roman. Aus dem Englischen von Eva Kemper. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 368 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.

Riad Sattouf: Der Araber von morgen. Eine Kindheit im Nahen Osten

Eine Kindheit in Syrien, gesehen durch die Augen eines naiven kleinen Jungen, gezeichnet von dessen erwachsenem Alter Ego: Der französische Zeichner Riad Sattouf, Sohn einer Bretonin und eines panarabischen Syrers, ist die ersten 15 Jahre in Libyen und Syrien aufgewachsen. Sattouf hat diese autobiografische Graphic Novel auf sechs Bücher angelegt. Der aktuelle dritte Band fängt zwei Jahre in einem Dorf bei Homs ein, Schulalltag, Verwandtenbesuche, Spielen mit Freunden. Und doch erfährt man darin mehr über den Alltag im Syrien der Siebzigerjahre, über Diktatur und Vorurteile, patriarchalische Strukturen, Alltagsgewalt und Vetternwirtschaft als aus manchem Soziologieband. (Alex Rühle)

Riad Sattouf: Der Araber von morgen. Eine Kindheit im Nahen Osten. Vol. 3. Aus dem Französischen von Andreas Platthaus. Knaus Verlag, München 2017. 150 Seiten, 19,99 Euro

George Orwell: Denken mit Orwell - Sätze für Zeitgenossen

Seit Donald Trump im Januar seine Präsidentschaft antrat, ist George Orwells weltberühmter, 1949 erschienener dystopischer Roman "1984" wieder ein Bestseller. Oft zu kurz kommt allerdings, dass Orwell nicht nur Romancier war, sondern auch ein begnadeter Essayist und Aphoristiker. Seine so klugen und kurzweiligen wie oft verblüffend aktuellen Gedanken zu Armut, Freiheit, Antisemitismus, Gewalt, Glauben, Krieg, Ideologien, Opposition, Verfall, Wahrheit, Macht, Rache und Religion verdienen es derzeit mindestens ebenso wiedergelesen zu werden wie "1984". Vielleicht sogar noch etwas mehr. Und kein Buch eignet sich dafür besser als die feine kleine Sammlung "Denken mit Orwell". (Jens-Christian Rabe)

George Orwell: Denken mit Orwell - Sätze für Zeitgenossen. Diogenes Verlag, Zürich 1982. 122 Seiten, 8,90 Euro

Ein Urlaubsbuch darf, ausnahmsweise, auch mal von einem Urlaub handeln

Stefan Zweig: Brennendes Geheimnis

Ein Urlaubsbuch darf, ausnahmsweise, auch mal von einem Urlaub handeln. Den verbringt Edgar, 12, mit seiner Mutter auf dem Semmering, einem beliebten Ausflugsziel der Wiener. Weil er einsam ist, am Eintritt zur Pubertät, sucht Edgar einen Freund. Er findet ihn im Speisesaal des Hotels und bedrängt seine Mutter, Zeit mit dem jungen Baron verbringen zu dürfen. Edgar ist glücklich, in diesem jemanden gefunden zu haben, der ihm zuhört, sich für ihn interessiert - bis er feststellt, dass dessen Interesse in Wirklichkeit seiner, Edgars, Mutter gilt. Edgar versteht nicht, was passiert, weshalb die Mutter und der Baron ihn mit einem Mal bei Spaziergängen hinter sich lassen. Als ihn die Mutter nachts im Hotelzimmer einsperrt, um ihrer Affaire d'amour mit dem Baron nachgehen zu können, bricht Edgar aus und kommt hinter das Geheimnis der beiden. Das Buch öffnet, nach heiterem Beginn, den Blick in die Seelenqualen eines Jungen am Eingang zur Erwachsenenwelt, die er (noch) nicht versteht. Edgar fühlt, dass seine Mutter unrecht tut. Er weiß aber nicht, warum. (Wolfgang Krach)

Stefan Zweig: Brennendes Geheimnis. Erzählung. S. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2013. 112 Seiten, 6,95 Euro. E-Book 3,99 Euro.

Roberto Bolaño: Die romantischen Hunde

"Und manchmal träume ich, dass Mario Santiago/Mich besucht, oder dass er ein Dichter ohne Gesicht ist". Eine verlorene und halb vergessene Generation südamerikanischer Autoren beschwört Roberto Bolaño in seinen Gedichten über diese "romantischen Hunde", die aufgerieben wurden zwischen faschistischen Diktaturen und den eigenen literarischen Ambitionen. Als einziger seiner Gefährten brachte er es posthum mit dem Roman "2666" zu Weltruhm. Seine in diesem Band gesammelten Gedichte - entstanden 1980 bis 2000 - sind Signaturen eines wilden und verträumten Dichterlebens, in dem sich nach dem Kinobesuch die Stadt verwandelt und in jedem Witz ein verborgener Abgrund lauert. (Nicolas Freund)

Roberto Bolaño: Die romantischen Hunde. Gedichte. Aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg und Christian Hansen. Hanser Verlag, München 2017. 169 Seiten, 20 Euro.

Peter von Matt: Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur

Peter von Matts "Sieben Küsse" hebt an mit zwei Sätzen, die das ganze Buch intonieren: "Das Wissen vom Glück bringt das Gegenteil hervor. Das einzige Lebewesen auf dem Planeten, das vom Glück weiß, trägt diese Erkenntnis mit sich herum wie ein Messer in der Brust." Zart in der Sprache, heiter-zupackend im Denken widmet sich der große Germanist von Matt sich sieben Kussszenen der Weltliteratur. Der Kuss in Virginia Woolfs "Mrs.Dalloway" und der Kuss in F. Scott Fitzgeralds "Der große Gatsby" werden von den Protagonisten mal emanzipatorisch, mal romantisch aufgeladen. Die Küsse in Kleists "Marquise von O..." sind von einer Vergewaltigung kaum zu unterscheiden. Auch Grillparzer, Gottfried Keller, Marguerite Duras und Anton Tschechow fanden im Kuss mehr als wohliges Geschlabber. Tiefe Kenntnis von den Untiefen der Psyche begeistert den Interpreten von Matt. Seine Prosa ist selbst Literatur, mit ihrer schönen Rhythmik empfiehlt sie sich zum Vorlesen. Bei der Lektüre dieses Buches bleibt die Zeit nicht stehen. Die Leser fühlen sich geküsst. (Franziska Augstein)

Peter von Matt: Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur. Carl Hanser Verlag, München 2017. 288 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.

Michael Mallett und Christine Shaw: The Italian Wars

Der Sommer ist dazu da, um auf einem Hügel in der Toskana zu sitzen und in die Landschaft zu schauen. Ein Buch, das dazu passt, ist "The Italian Wars, 1494-1559" von Michael Mallett und Christine Shaw. Ja, das ist auf Englisch, und nein, es gibt keine deutsche Übersetzung. Macht aber nichts. Mallett war ein bedeutender englischer Renaissance-Historiker, der 2008 starb. Seine Kollegin Shaw vollendete das Buch. Italien war Ende des 15. Jahrhunderts eine Ansammlung von Klein- und Kleinststaaten mit grandioser Geschichte (Mailand, Venedig) und Kultur (Florenz, Siena). Höchst farbige Gestalten konkurrierten um dieses Italien, vom Franzosenkönig Karl VIII. über den Borgia-Papst Alexander (der mit Lucrezia und Cesare) bis hin zu deutschen Landsknechten und spanischen Pikenieren. In den Jahren, über die Mallett und Shaw schreiben, wollten sich die Ausländer Italien unter den Nagel reißen. Wie sie das gemacht haben, wird in dem Buch erzählt. Warum sie das auch gemacht haben, versteht jeder, der auf einem Hügel in der Toskana sitzt und in die Landschaft schaut. (Kurt Kister)

Michael Mallett und Christine Shaw: The Italian Wars. 1494-1559. Routledge, London, 2012. 456 Seiten, ca. 46 Euro. E-Book 24 Euro.

Giacomo Leopardi: Opuscula moralia

Der Dichter war ein kleiner, buckliger Mann, der wenig Glück bei den Frauen hatte. Zugleich aber war Giacomo Leopardi einer der gebildetsten Menschen seiner Zeit, ein freier, ironischer Geist, der sich fragte, ob die Langweile tödlich sei oder wie man auf den Gedanken komme, das nächste Jahr werde glücklicher sein als das vergehende. Drei Dutzend solcher Geschichten, Dialoge und Szenen hat der Übersetzer Burkhart Kroeber für diesen so abwechslungsreichen wie schönen Band ausgewählt. Alle sind gebildet genug, um sich von ihnen belehren zu lassen, und heiter genug, dass man den Autor darüber lieb gewinnt - man muss sie nicht auf einem Hügel in den Marken lesen, ein Stuhl auf dem Balkon tut es auch. (Thomas Steinfeld)

Giacomo Leopardi: Opuscula moralia. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber und Paul Heyse. Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. 360 Seiten, 42 Euro.

Gaye Boralioğlu: Der Fall Ibrahim

Es gibt diese türkischen Goldgräbergeschichten: Da geht einer nach Istanbul, macht sein Glück und wird reich. Und es gibt die anderen, die den Geruch der Provinz nie loswerden, die in den Teehäusern immer die falschen Leute kennenlernen. So einer ist Ibrahim, könnte man denken. Nur wer ist dieser Ibrahim wirklich? Die Autorin Gaye Boralioğlu, geboren 1963 in Istanbul, nimmt ihre Leser mit auf eine Spurensuche, an Orte, fern ab von Orientkitsch und politischer Korrektheit. Sie porträtiert mit leichter Hand eine Gesellschaft, in denen Menschen schwere Traumata erleiden, in der Gewalt und frauenverachtende Männlichkeit alltäglich sind. Aber Ibrahim ist anders, nur er ist verschwunden, und der Roman rekonstruiert sein Leben in Fotografien und Reportagen einer Journalistin mit Menschen, die ihn kannten, liebten, hassten. Dem auf türkische Literatur spezialisierten Verlag binooki sind immer wieder Entdeckungen wie dieses Buch zu verdanken, die zeigen, wie reichhaltig und gar nicht unpolitisch das literarische Leben am Bosporus noch ist. (Christiane Schlötzer)

Gaye Boralioğlu: Der Fall Ibrahim. Roman. Mit Fotos von Manuel Çıtak. Aus dem Türkischen von Wolfgang Riemann. binooki Verlag, Berlin 2017. 248 Seiten, 19,80 Euro.

Julian Barnes: Der Lärm der Zeit

In der 5. Sinfonie Dmitri Schostakowitschs fallen Triumph- und Todesmarsch in eins. So klingt unter Drohungen und Prügeln erzwungener Jubel. Schostakowitsch schrieb seine Fünfte im Jahr 1937, nach Verboten, Beschimpfungen, der allnächtlichen Angst, dass sie kämen, ihn abzuholen. Knapp, klug, beklemmend vergegenwärtigt Julian Barnes Augenblicke im Leben des Komponisten und erzählt damit von der Zerstörung der menschlichen Seele: "durch das, was andere Menschen einem antaten; durch das, was ein Mensch sich selbst antat, weil andere ihn dazu trieben; und durch das, was ein Mensch sich aus freien Stücken selbst antat". Überleben und Verrat, Selbstbehauptung und Feigheit fallen in eins. (Jens Bisky)

Julian Barnes: Der Lärm der Zeit. Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 256 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.

Einsamer nie als im August?

Paul Auster: 4321

Zum Urlaub in die USA? Selbst für Freunde Amerikas ist das eine heikle Frage, in Zeiten Donald Trumps. Doch es gibt einen wunderbaren Zugang zur Größe dieses Landes - Paul Austers Roman "4 3 2 1". Der Held, Archibald Ferguson, wächst in bewegten Zeiten heran, im Amerika der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Protest gegen den Vietnamkrieg, Studentenrevolte und Rassenunruhen bilden die Kulisse. Bildungshunger treibt Archie an, er saugt die Weltliteratur in sich auf, schreibt Romane - und liebt Baseball. Archie ist kompliziert. Paul Auster macht es noch komplizierter. Er erzählt "4 3 2 1" in vier Episoden. Dreimal stirbt Archie, jedes Mal darf er weiterleben, allerdings unter veränderten Umständen. Mal bleiben seine Eltern zusammen, mal trennen sie sich, mal fühlt Archie sich zu Mädchen, mal zu Jungen hingezogen. Verwirrend? Nein, ein genialer Kunstgriff des Autors. Beides, Zufall und Charakter eines Menschen, bestimmen das Leben. Auster schuf eine Sinfonie in vier Sätzen - über sein eigenes Leben. Dabei genügt ihm ein einziges Instrument: Erzählkunst. (Hendrik Munsberg)

Paul Auster: 4321. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz, Nikolaus Stingl, Thomas Gunkel und Karsten Singelmann. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 1264 S., 29,95 Euro. E-Book 26,99 Euro.

Andrej Platonow: Die Baugrube

Der Ort: allerfinsterste russische Provinz. Die Zeit: Herbst und Winter 1929/1930, die Hochphase der sowjetischen Kollektivierung . Die Handlung: Arbeiter heben eine gigantische Baugrube aus, um darauf ein "gemeinproletarisches Haus" zu errichten. Sie finden ein Mädchen, Nastja, das rein und mörderisch ist wie der Kommunismus. Am Ende stirbt es. Der Ingenieur und Schriftsteller Andrej Platonow schreibt in einer unerhörten Sprache, voller Anspielungen, Neuschöpfungen, schwindelerregender Bilder. "Die Menschen sanken um wie Hosen", Sätze wie diesen hat Gabriele Leupold neu ins Deutsche übertragen, in ihrer ganzen Zerklüftung und Erbarmungslosigkeit. Bauern überfressen sich an Fleisch, um das Vieh nicht der Kolchose zu überlassen. Andere, Aussortierte, werden auf einem Floß den Strom hinabgeschickt. Alles historisch belegt. Gegen Platonow wirkt Wladimir Sorokins literarischer Kosmos unterhaltsam wie ein Kettenkarussell. Ähnlich ins Herz trifft nur Isaak Babel. Das soll ein Sommerbuch sein? Was sonst. Von Oktober an hält man es nicht mehr aus. (Sonja Zekri)

Andrej Platonow: Die Baugrube. Roman. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Mit einem Nachwort von Sibylle Lewitscharoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 240 Seiten, 24 Euro. E-Book 20,99 Euro.

Monat für Monat. Gedichte

"Einsamer nie als im August"? Ja, ja, Gottfried Benn, aber wie fühlt man sich drinnen bei Gewitterneigung im Juli? Dafür hat Rilke Worte: "Es spiegeln die verblichenen Tapeten / das ungewisse Licht von Nachmittagen, / in denen man sich fürchtete als Kind." So steht's in einem der gefürchteten und geliebten gelben Hefte - Reclams Universal-Bibliothek wird 150. Diese Jubiläums-Kompression von saisonal sortierten Gedichtbänden kann, wer will, als meteorologisches Bulletin lesen, als poetisches Regenradar. Für Kopf und Seele ergiebiger finde ich antizyklisches Lyriklesen. Im Sommer mit Morgenstern an Novemberstimmungen denken: "Heimlich, wie auf Meeresgrund / träumen Mensch und Erde." (Johan Schloemann)

Monat für Monat. Gedichte. Herausgegeben von Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell. Reclam Verlag, Stuttgart Ditzingen, 2017. 176 Seiten, 8 Euro.

Sarah Bakewell: Das Café der Existenzialisten

Ein philosophisches Sachbuch für den Sommerurlaub? Aber ja doch, dieses hier unbedingt! Sarah Bakewells Geschichte des französischen Existenzialismus ist so sinnlich verankert im Leben selbst, dass die Lektüre ein intellektuelles Vergnügen ist. Die Londoner Schriftstellerin versammelt in ihrem imaginären "Café der Existenzialisten" die wichtigsten Akteure dieser philosophischen Richtung, die das Lebensgefühl einer Generation prägte. Im Zentrum, klein, aber oho: Jean-Paul Sartre, begleitet von Madame de Beauvoir. Aber auch Edmund Husserl, Karl Jaspers, Albert Camus sind mit von der Partie. Nicht zu vergessen den im Schwarzwald wesenden Martin Heidegger. Ganz großes Denker-Kino! Dazu empfiehlt sich ein Aprikosencocktail. (Christine Dössel)

Sarah Bakewell: Das Café der Existenzialisten. Freiheit, Sein und Aprikosencocktails. Verlag C. H. Beck, München 2016. 448 Seiten. 24,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Mackenzi Lee: Cavaliersreise. Die Bekenntnisse eines Gentlemans

Eine geheimnisvolle Schöne, die den jungen Hasardeur Sir Henry Montague in Versailles beim Fest Ludwig XV. verführen will, und der Diebstahl eines Kästchens aus den Gemächern des Herzogs von Bourbon verwickeln den jungen Adeligen auf seiner Bildungsreise durch Europa im 18. Jahrhundert in lebensgefährliche Abenteuer. Mit Hilfe seiner Mitstreiter, der toughen Schwester und des farbigen Freundes findet er in dem Kästchen ein alchemistisches Geheimnis, eine Panazee, ein lebendes Herz. Doch da hat er sein Herz längst an den besten Freund vergeben, in diesem Coming-of-Age-Roman, - mit Reminiszenzen an die Klassiker "Tristram Shandy" und "Geheimnisvolle Liebschaften". (Roswitha Budeus-Budde)

Mackenzi Lee: Cavaliersreise. Die Bekenntnisse eines Gentlemans. Aus dem Englischen von Gesine Schröder. Carlsen Verlag, Hamburg 2017. 493 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 13,99 Euro.

Joseph Conrad: Die Schattenlinie

Der junge Seemann ähnelt seinem Autor. Wie Joseph Conrad wird ihm im Fernen Osten das Kommando über einen Dreimaster anvertraut, sein erstes. Die Schattenlinie, die er überqueren muss, trennt die jugendliche Unbeschwertheit von den Regionen, in denen das Leben auf dem Spiel steht. Rasch sind die autobiografischen Leinen gekappt. Wer mit dem jungen Kapitän in See sticht, muss bald befürchten, auf ein Totenschiff geraten zu sein. Die Epoche der Segelschifffahrt geht zu Ende, die Dampfschiffe verkehren nach Plan, Poseidon ist zum Bürokraten geworden, und der junge Kapitän glaubt nicht an Gespenster. Aber sie sind mit an Bord und nutzen die Windstille. Ein großes Leseabenteuer. (Lothar Müller)

Joseph Conrad: Die Schattenlinie. Roman. Aus dem Englischen von Daniel Göske. Carl Hanser Verlag, München 2017. 420 Seiten, 30 Euro.

Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes

Man kann es Karl Ove Knausgård schon übel nehmen, dass derzeit so viele Autoren ihren Alltag zu Literatur hochjazzen. Auch in "Im Reich Gottes" von Emmanuel Carrère gilt es zunächst viele Seiten Persönliches und manchmal auch Waschlappiges aus dem Leben des Autors zu erfahren. Nur dient es in diesem Fall dem höheren Zweck, den Glauben Carrères kennenzulernen, was in der Folge notwendig wird. Denn er erzählt die Biografien der Apostel Lukas und Paulus, die für sehr viel von dem verantwortlich sind, was wir heute als Glauben verstehen. Er beschreibt zwei ebenso unterschiedliche wie getriebene Charaktere, die Christen und Atheisten sonst nur als Steinfiguren auf Kirchenportalen bekannt sind. Hier zeigt sich der wahre Kniff in Carrères Erzähltechnik: Seine hochspekulative Schilderung lässt man ihm als Leser durchgehen, weil er eben eine radikal persönliche Perspektive anbietet. Man wird belohnt mit einem rasanten und lehrreichen Buch über das Christentum, die Bibelschreibung und den Glauben - und das ist ja eigentlich ein kleines Wunder. (David Pfeifer)

Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 524 Seiten, 24,90 Euro. E-Book 19,99 Euro.

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