Literatur:Die Frist, verloren zu gehen

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"Siehe, nun schliessen sich wieder die Wege, auf denen ich unterwegs war", schrieb Wolfgang Bächler einmal unter dem Titel "Depression". (Foto: Isolde Ohlbaum)

Der Schriftsteller Wolfgang Bächler zählte schon in jungen Jahren zur ersten Reihe der Nachkriegsliteraten. Doch dann geriet er in Vergessenheit - und sogar ein Teil seines Vorlasses, den das Literaturarchiv Monascensia aufbewahren sollte, verschwand.

Von Antje Weber

Schon das erste Gedicht, das man von ihm lesen konnte, war eine klare Ansage: Hier kommt einer, den sollt ihr nicht so schnell wieder vergessen. "Die Fontäne" hieß das Gedicht, das der damals 25-jährige Wolfgang Bächler 1950 an den Anfang seines Debütbands "Die Zisterne" stellte: "Kühn steige ich und falle/ zerstäubt vom Überschwalle/ nur immerzu in mich./ Ich baue Zaubertürme./ Durch Wind und Wetterstürme/ aufwirbelnd tanze ich./ Zersprühende Gewalten/ sich neu in mir gestalten,/ und Sonnen spiegeln sich." Es waren überschäumende Zeilen von einem, der gerade schwer verletzt als junger Soldat den Krieg überlebt hatte und nun neu entdecken wollte, was das alles heißen kann: Leben. Und der doch wusste von all den Gewalten, die in ihm brodelten und denen er eine Form zu geben versuchte - die Form des Gedichts.

Mit seinen expressiv aufgeladenen frühen Texten, die auch heute noch eine unmittelbare Dringlichkeit ausstrahlen, katapultierte sich Bächler damals sofort in die erste Reihe der deutschen Nachkriegsliteratur. Der 1925 in Augsburg geborene Schriftsteller wurde in einem Atemzug mit Günter Eich oder Ingeborg Bachmann genannt, von Thomas Mann und Gottfried Benn geschätzt. Er galt als jüngstes Gründungsmitglied der Gruppe 47, war mit Martin Walser befreundet und wurde noch in den Achtzigerjahren von Thomas Bernhard verehrt. Danach wurde es - abgesehen von einigen außerliterarischen Episoden, von denen noch zu reden sein wird - still um ihn. Als Bächler am 24. Mai 2007 in München starb, vor genau zehn Jahren also, da war er fast vergessen; manch einer hielt ihn bereits für tot.

Einen Garantieschein für Nachruhm gibt es nicht, auch für die Begabtesten nicht. Wer findet auf Dauer Aufnahme in den Kanon? Ein Schriftsteller wie Oskar Maria Graf zum Beispiel, dessen 50. Todestag in diesem Juni ansteht, hat es geschafft: Eine Ausstellung im Literaturhaus und zahlreiche Veranstaltungen werden an ihn erinnern, und bewegende Romane wie "Das Leben meiner Mutter" werden hoffentlich auch in hundert Jahren noch gelesen werden. Bei einem Münchner Schriftsteller wie Gert Hofmann dagegen, bei dem 2018 der 25. Todestag ansteht, ist das Schicksal noch nicht ganz entschieden. Seine Bücher, bei Hanser und dtv erschienen, sind nur noch in altbacken wirkenden älteren Ausgaben erhältlich. Entdecken heute noch neue Leser den speziellen Hofmann-Ton in "Der Kinoerzähler" für sich? Ja, auch über das Vergessen - besonders gnadenlos oft bei Frauen - kann man ganze Bücher schreiben; Adelheid Schmidt-Thomé hat etwa in "Vergessene Münchnerinnen" jüngst an einst erfolgreiche Autorinnen wie Carry Brachvogel erinnert.

Bei einem Lyriker wie Wolfgang Bächler jedenfalls geht es schnell mit dem Vergessen; keine Veranstaltung in München erinnert zum zehnten Todestag an ihn. Er hätte es verdient; doch wie schrieb der Literaturkritiker Albert von Schirnding im Nachwort zu dem feinen Band mit Bächlers gesammelten Gedichten, der immerhin vor fünf Jahren bei S. Fischer herauskam: "An das Selbstverständliche muss erinnert werden, und auch die erneuerte Erinnerung bedarf der Wiederholung."

Wiederholen kann auch bedeuten: wieder herholen. Im Münchner Literaturarchiv Monacensia kann man den Nachlass von Wolfgang Bächler sichten, in 25 Kassetten sind unzählige Manuskripte, handschriftliche Dokumente und Briefe aufbewahrt. Unveröffentlichte Jugendgedichte auf braun vergilbten Blättern sind da zu finden, handschriftliche Verbesserungen von Gedichten, die er häufig in mehreren Fassungen abtippte. Und die immer düsterer zu werden schienen: "Der Nebel ist unersättlich", beginnt ein anrührendes Gedicht; der Nebel rückt immer näher, er "frißt alles, frißt dich". Das Blatt ist angekokelt, wie so einige in diesem Nachlass. Und damit kommt man dem Kern des Unglücks von Wolfgang Bächler dann schon ziemlich nahe.

Bächler nämlich war seit den Fünfzigerjahren zunehmend manisch-depressiv, heute nennt man das bipolare Störung. Was es bedeutet, konnte man jüngst im luziden Krankheits-Buch "Die Welt im Rücken" von Thomas Melle nachlesen. Wer in manischen Phasen unberechenbar ist, in depressiven dagegen unerreichbar eingekapselt, ist irgendwann noch die zähesten Fürsprecher los. "Die größte Erschütterung dabei: mein Selbst verloren zu haben", schreibt Melle. Und Bächler notierte unter dem Titel "Depression": "Siehe, nun schliessen sich wieder die Wege, / auf denen ich unterwegs war. / Es bleibt keine Frist mehr, / verloren zu gehen."

Dieser kranke, kettenrauchende Bächler jedenfalls setzte 1992 aus Versehen mit einer Zigarette einen Stapel Süddeutscher Zeitungen und damit seine Wohnung an der Münchner Steinheilstraße in Brand. Immerhin konnte man vieles retten, wie die damalige Kulturreferats-Mitarbeiterin Verena Nolte erzählt, die Bächler gut kannte. Der Dichter selbst wurde zunächst in die Psychiatrie in Haar eingeliefert. Bald setzte ihn der Hauseigentümer vor die Wohnungstür; die letzten Lebensjahre verbrachte Bächler im Künstler-Altersheim der Friedmann-Stiftung am Viktualienmarkt, betreut von Freundinnen. Die Stadt München jedenfalls kaufte Bächler die angekokelten Sachen, die nach dem Brand noch übrig waren, als Vorlass ab.

Doch des Unglücks war in diesem Fall kein Ende. Da die Monacensia keinen Platz im Hildebrandhaus hatte, sollte Bächlers Vorlass in einem Magazin am Gasteig untergebracht werden. Dort jedoch stellte man fest, wie der damalige Kulturreferent Siegfried Hummel 1996 im Kulturausschuss berichtete, dass "der Großteil der angekohlten Leitzordner nicht mehr vorhanden war". Es handelte sich vor allem um Bächlers Korrespondenz mit anderen Schriftstellern, insgesamt ein Drittel des Vorlasses. Auch die Kriminalpolizei fand nichts heraus; womöglich hatte ein Mitarbeiter die angebrannten Papiere bei der Anlieferung für Müll gehalten und entsorgt. Bis zu Bächlers Tod jedenfalls, sagt Nolte, habe niemand gewagt, ihm vom Verlust zu erzählen. Der Dichter habe sich nur gewundert, warum niemand in der Stadt mal auf die Idee einer Ausstellung kam.

Doch alles ging ja nicht verloren, und noch ist ein Wolfgang Bächler auch nicht ganz vergessen. Es wird sich zeigen, ob seine "Sprachgesten", ob seine "Wortwoge" noch zu künftigen Generationen überschwappen. "Ein Tonfall wird/ zum Fall aus der Zeit", ahnte Bächler selbst. Und setzte diesem Fall aus der Zeit doch, bevor er erschöpft verstummte, immer wieder seine Wörterfluten entgegen: "Die Sprache denkt sich,/ sie bricht und denkt,/ ritzt ihre Zeichen/ in die leeren weißen Schneisen,/fährt mit uns aus,/ fährt mit uns heim/ auf den Strömen der Welt."

© SZ vom 24.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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