Literatur:Das sind die Bücher des Jahres

Vom Besuch auf einem Porno-Filmfestival bis zum Minnesang: Romane und Sachbücher, die SZ-Redakteure 2017 wichtig, groß und tröstlich fanden.

Von SZ-Autoren

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Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben

Yanagihara Buchcover

Quelle: Hanser Berlin Verlag

Die Geschichte ist traurig, fast unerträglich sogar mit ihren Schilderungen sexueller Gewalt und akribischer Selbstverletzung. Und sie endet tragisch. Freundschaft kann Jude St. Francis, den brillanten, aber seelisch tief verwundeten Helden, nicht retten. Und doch, da liegt der Zauber, ist Freundschaft der Grund, dass Rettung als Möglichkeit überhaupt in Betracht kommt. "Ein wenig Leben" handelt von vier Freunden in New York, die sich in mageren College-Jahren kennenlernen und dann aufs Glamouröseste Karriere machen: Als Anwalt wie Jude, als Schauspieler, Künstler, Architekt. Zugleich - selten war ein Buchtitel eine solche Untertreibung - durchleben sie persönliche Katastrophen, Drogensucht, Schaffenskrisen, wenn auch kein Unglück, das an jenes von Jude St. Francis heranreicht. Er wurde als Kind von sadistischen Mönchen missbraucht, und das war erst der Beginn seines Leidensweges. Jude findet Adoptiveltern, die ihn lieben, Willem, der Filmstar, wird seine große Liebe. Aber nicht jede Wunde lässt sich heilen, nicht jede Vergangenheit überwinden. Die amerikanische Schriftstellerin Hanya Yanagihara hat ein überwältigendes Melodram geschaffen, in dem sich Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierungen oder Hautfarbe so selbstverständlich mischen, als trügen sie nur unterschiedliche Hüte, in dem Liebe wichtiger ist als Blutsverwandtschaft. "Ein wenig Leben" hat den Glanz, besser: das Ideal der Obama-Zeit eingefangen. Ein fast 1000-seitiges Manifest, ein Licht, das in der düstersten Trump-Nacht noch tröstlich strahlt. Sonja Zekri

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. A. d. Engl. v. Stephan Kleiner; Hanser Berlin, Berlin 2016; 960 Seiten, 28 Euro.

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Heiner Geiselberger (Hrsg.): Die große Regression

Die große Regression Buchcover

Quelle: Suhrkamp Verlag

Dass der ganze weltpolitische Wahnsinn dieser Tage Teil eines konsequenten Verlaufs der Geschichte ist, mag bekannt sein. Wie historisch verflochten die Wahl des Martkradikalen Donald Trump, der Einzug der AfD in den Bundestag und das Rechtsaußenbündnis des österreichischen Kanzlers Kurz sind, warum es ins Bild passt, dass mutmaßliche Massenmörder wie der indische Premier Narendra Modi und der philippinische Präsident Rodrigo Duterte an die Macht kommen und Autokraten wie Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan die Demokratie mit demokratischen Mitteln abschaffen, erläutern 15 Essayisten aus aller Welt in dem Band "Die große Regression: Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit". Den hat Heiner Geiselberger zusammengestellt, der den Suhrkamp-Verlag aus seinen Jahren als Hohenfeste des deutschen Geistes- und Literaturlebens in die intellektuellen Debatten der internationalen Gegenwart geführt hat und dabei zu einem der weltweit intellektuell schärfsten Lektoren geworden ist. Will man nur ein einziges Buch zur Weltlage lesen in diesem Jahr, dann wäre "Die große Regression" eine hervorragende Wahl. Und weil solche Bücher nur der Beginn einer Debatte sind, gibt es auch noch ein Twitterkonto, auf dem diese weitergeht (@tgrdebate). Andrian Kreye

Die große Regression: Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit; hrsg. v. Heiner Geiselberger; Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 319 Seiten, 18,00 Euro, E-Book, 15,99 Euro.

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Kate Tempest: Brand New Ancients/Brandneue Klassiker

Kate Tempest Buchcover

Quelle: Suhrkamp Verlag

Die Londoner Rapperin Kate Tempest ist viel mehr als "die vielleicht wichtigste Sprachkünstlerin ihrer Generation", wie der Spiegel sie genannt hat, um sie mit diesem scheinbaren Kompliment indirekt doch zu degradieren. Kate Tempest ist nicht bloß Stimme einer Generation. Sie ist mutig genug, pathetisch zu sein, wo Pathos unzeitgemäß erscheint. In einer sich selbst optimierenden Gesellschaft, in der die Instagram-Posts entfernter Bekannter das eigene Leben überstrahlen, blickt sie auf die im Schatten, auf die Verlorenen und die Verlierer. Ihnen widmet sie ihr Langgedicht "Brand New Ancients". "Die Götter werden geboren, leben eine Zeit und sterben dann", heißt es dort. Ihre Empathie mit diesen gefallenen Göttern macht Kate Tempests Schreiben politisch. Ihre Verse haben die Wucht von Punchlines, sie treffen bei jedem Wiederlesen. Wie schon ihr Roman "Worauf du dich verlassen kannst" ist auch ihre Lyrik im englischen Original beeindruckender als in der Übersetzung. Umso besser, dass der Suhrkamp-Verlag sich für eine zweisprachige Ausgabe entschieden hat. Karin Janker

Kate Tempest: Brand New Ancients/Brandneue Klassiker. Aus d. Engl. v. Johanna Wange; Edition Suhrkamp, Berlin 2017, 112 Seiten, 14 Euro.

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Stefanie Sargnagel: Statusmeldungen

Stefanie Sargnagel Buchcover

Quelle: Rowohlt Verlag

Ohne jeden Zweifel ist das beste, wichtigste und schönste Buch des Jahres "Statusmeldungen" von der Fundamentalfeministin und Internetaktivistin Stefanie Sargnagel. Die Österreicherin mit der roten Baskenmütze hat darin ihre kleinen und großen Texte, die sie ständig bei Facebook raushaut, in einer Art Tagebuch zusammengefasst. Sie betreibt dabei gar nicht nur Nabelschau, es geht echt um was: um Flüchtlinge, um Politik, manchmal auch Verdauung oder das Einkaufszentrum Lugner City in Wien. Das ist richtig toll, weil sich Sargnagel so herrlich über all die Deppen aufregt, denen sie jeden Tag im Callcenter, auf der Straße und online begegnet und die nicht damit klarkommen, dass sie das alles so fies ironisch aufschreibt und dann ins Internet stellt. Überhaupt das Internet. Sargnagel hat schon so einige gegen sich aufgebracht, die Kronenzeitung und die FPÖ - also halb Österreich - und die Hochkulturkenner, für die Literatur nur in staubigen Salons und dicken Büchern von alten Männern stattzufinden hat. Es ist wunderbar, wie all diese selbsternannten Komma- und Sittenwächter in den sozialen Netzwerken auf ihre kleinen Provokationen hereinfallen. Aber es gibt Hoffnung, manchmal schreibt Sargnagel auch über Kultur: "Im neuen Terminator wehren sie sich gegen eine diabolische App, die die Welt zerstört, indem sie alles klitzeklein schlagen, sich gegenseitig ins Maul treten und alles anzünden. Sie verprügeln das ganze Internet." Genau so ist das. Nicolas Freund

Stefanie Sargnagel: Statusmeldungen; Rowohlt Verlag, Reinbek 2017, 304 Seiten, 19,95 Euro.

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Barbara Stollberg-Rilinger: Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit

Maria Theresia Buchcover

Quelle: C.H. Beck Verlag

Als Mustafa Hatti Efendi, der Gesandte des Sultans, im Mai 1748 seinen Antrittsbesuch in Wien absolvierte, war dies eine heikle Angelegenheit, obwohl die Regeln feststanden, zumindest die für das Zeremoniell. Der Gesandte hatte den kaiserlichen Rocksaum zu küssen. Allerdings regierte seit 1740 eine Frau, Maria Theresia. Und die Regeln für den Umgang zwischen Männern und Frauen stimmten mit den Regeln des Zeremoniells nicht überein. Maria Theresia, just damals mit ihrem zehnten Kind schwanger, fand einen Ausweg und bot dem Gesandten den Saum ihres "Appartement Mänterls" mit der Hand dar. Mustafa Hatti Efendi vollzog den ehrerbietigem Kuss. Dennoch befremdete die Szene. Sie ist eine von vielen in Barbara Stollberg-Rilingers großem Buch über die "Kaiserin in ihrer Zeit". Es geht um Krieg und Frieden, Staatseinnahmen und Reformversuche, Macht und Geschlechterverhältnisse, Religionskonflikte und Gewalt - aber eben im 18. Jahrhundert. Auf höchst vergnügliche Weise lernt man, die Welt anders anzuschauen. Jens Bisky

Barbara Stollberg-Rilinger: Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie. Verlag C.H. Beck, München 2017, 1083 Seiten, 34 Euro.

6 / 10

Gaël Faye: Kleines Land

Gael Faye Buchcover

Quelle: Piper Verlag

Es gibt nicht viele Bücher, die es schaffen, aus der Sicht eines Kindes zu erzählen, und dabei kein bisschen kitschig daherzukommen. "Kleines Land", der Debütroman des französisch-burundischen Musikers Gaël Faye, ist so ein Buch. Die Hauptfigur Gabriel wächst - genau wie der Autor selbst - als Sohn einer Ruanderin und eines Franzosen in den Neunzigerjahren in Burundi auf. Alles scheint in bester Ordnung: Gabriel wohnt mit seiner Familie in einer großen Kolonialvilla, seine Nachmittage verbringt er damit, im nahe gelegenen Fluss zu fischen oder mit seinen Freunden durch die Nachbargärten zu strolchen. Doch urplötzlich ändert sich alles. Erst trennen sich die Eltern, dann beginnt das Morden im benachbarten Ruanda und auf einmal liegen auch in der Hauptstadt Burundis Tote auf den Straßen. Das Paradies, in dem man sich gerade noch zu befinden meinte, wird zur Hölle. Selbst Gabriel und seine Freunde können sich dem Hass, der zwischen den verschiedenen Volksgruppen aufflammt, nicht entziehen. Doch obwohl sich in "Kleines Land" sehr dramatische Dinge ereignen, erzählt Faye davon in einem leichten, unsentimentalen Ton. Genau das macht dieses Buch so eindrücklich und natürlich auch aktuell. Denn "Kleines Land" lässt erahnen, welchen Schmerz es bedeutet, wenn ein Krieg einem nicht nur die Heimat, sondern auch die Kindheit raubt. Luise Checchin

Gaël Faye: Kleines Land. Aus d. Frz. v. Andrea Alvermann und Brigitte Große, Piper Verlag, Berlin 2017. 224 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.

7 / 10

Theodora Bauer: Chikago

Theodora Bauer Buchcover

Quelle: Picus Verlag

Feri und Katica wollen weg. Sie sind zwei junge Burgenländer, beide arm in einem armen Landstrich, um den sich in den Zwanzigerjahren Österreich und Ungarn zanken. Mit nichts als einer Adresse in der Hand gehen sie "ins Amerika". Der Weg ist beschwerlich und die Arbeit, die Feri findet, hart und schlecht bezahlt. "Chikago" klingt nach einem klassischen, brav recherchierten kleinen Historienroman. Aber der Schein trügt, dieses schmale Büchlein hat es politisch ordentlich in sich. Die junge österreichische Autorin Theodora Bauer beschwört mit einer schönen, altmodischen, aber schlichten Sprache eine verschwundene Welt, in der sich ein recht gegenwärtiges Szenario abspielt. Denn Feri und Katica sind natürlich nichts anderes als Wirtschaftsflüchtlinge. Als ihr Sohn zwanzig Jahre später zurück muss ins Burgenland, hat er weder Geld noch Erfolgsgeschichten vorzuweisen, aber dafür einen gewaltigen Minderwertigkeitskomplex. In Österreich findet er eine fremdenfeindliche, autoritäre Gesellschaft vor, die einzigen, die sich für ihn interessieren, sind diese blonden Jungs, die im Wald Liegestütze machen. Nachts werfen sie Steine in ausgewählte Fenster und verteilen Flugblätter im Ort. Darauf sind Hakenkreuze. Kathleen Hildebrand

Theodora Bauer: Chikago; Picus Verlag, Wien 2017, 250 Seiten, 22 Euro, E-Book 17,99 Euro.

8 / 10

Angela Steidele: Anne Lister. Eine erotische Biographie

Angela Steidele Buchcover

Quelle: Verlag Matthes & Seitz

Als John Lister Ende des 19. Jahrhunderts die Papiere seiner Vorfahren sichtete, stieß er auf etwas Besonderes: Ein Tagebuch, teilweise in Geheimschrift verfasst. Urheberin war Anne Lister. Er veröffentlichte einige historisch und politisch interessante Auszüge in der Zeitung und versuchte, die chiffrierten Passagen zu entziffern. Als es ihm gelang, wünschte er, es wäre ihm nicht gelungen: "Es handelte sich um einen intimen Bericht über homosexuelle Handlungen zwischen Miss Lister und ihren vielen Freundinnen" bis zu Details wie der Anzahl und Qualität ihrer Orgasmen. Beinahe hätte er die Tagebücher vernichtet, stattdessen versteckte er sie hinter Wandpaneelen, auf dass sie eines Tages gefunden würden. Und sie wurden gefunden. Angela Steidele hat anhand dieser Tagebücher eine "erotische Biographie" geschrieben. Die ist nicht nur die Geschichte der "ersten modernen lesbischen Frau", sondern ein Zeugnis eines in der damaligen Zeit besonderen Lebensentwurfes und der sozialen Umstände eines mehr als ungewöhnlichen Lebens. Juliane Liebert

Angela Steidele: Anne Lister. Eine erotische Biographie; Matthes und Seitz, Berlin 2017, 328 Seiten, 28 Euro.

9 / 10

David Foster Wallace: Der große rote Sohn

David Foster Wallace Buchcover

Quelle: Verlag Kiepenheuer & Witsch

Achtung, es folgt Pornojargon und schön ist der nun nicht, aber essenziell, um den Ton dieses großartigen kleinen Buches zu erfassen. Glossar: Ein Steher ist ein "verlässlich potenter männlicher Darsteller". Einer, der jederzeit einen Ständer, also "eine kamerataugliche Erektion", zustande (sic.) bringt. Warten auf den Steher ist immer nötig, wenn ihm das nicht gelingt. Hier kann Fluffen helfen, was "eine nicht gefilmte orale Aktivität" bezeichnet, "die den Ständer eines Stehers anregen, erhalten oder verstärken soll." Noch da? Dann eilig dieses wunderbare Buch besorgen. David Foster Wallace besucht darin die Verleihung der Adult Video News Awards - die Oscars der Pornoindustrie. Und was er 1998 vom "Großen roten Sohn" Hollywoods mitbringt, ist eine seltsam aktuelle Reportage (mit ausufernden Fußnoten) - brillant und überraschend liebevoll beobachtet und sehr, sehr lustig. Eine Übung enthält das Buch auch: "Verwenden Sie mindestes acht der vorgenannten Begriffe in einem klar gegliederten englischen Satz." Die Musterlösung ist schauderhaft. Und rührend. Jakob Biazza

David Foster Wallace: Der große rote Sohn. Aus d. amerik. Engl. v. Ulrich Blumenbach; Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2017; 112 Seiten, 7,99 Euro.

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Tristan Marquardt und Jan Wagner (Hrsg.): Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertr

Minnesang Buchcover

Quelle: Hanser Verlag

Das vielstimmigste Buch des Jahres haben fast siebzig deutsche Dichter und Dichterinnen geschrieben. Sie waren vom neuen Büchner-Preisträger Jan Wagner und seinem Mitherausgeber Tristan Marquardt eingeladen worden, in einem großen Übersetzungsturnier den mittelhochdeutschen Minnesang des 12. und 13. Jahrhunderts in modernes Deutsch zu übertragen. Einige haben Wolfram von Eschenbach, Neidhart von Reuental, Oswald von Wolkenstein und viele andere, auch unbekannte Dichter irgendwo zwischen Gegenwart und Mittelalter getroffen, andere haben sie in die Welt des Schlagers geholt, der auch schon mal Englisch spricht. Es wird gereimt und nicht gereimt, die Triebe verkuppeln Liebe und Sex, es wird ins Leere gelaufen und aus dem Vollen geschöpft. Wie eh und je erklingen Vogelstimmen an heimlichen Orten, noch immer ist das sluzzelîn, das Schlüsselein zum Herzen, verloren, und doch wird sehr viel aufgeschlossen. Lothar Müller

Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen. Herausgegeben von Tristan Marquardt und Jan Wagner. Carl Hanser Verlag, München 2017. 304 Seiten, 32 Euro.

© SZ.de/khil
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