Literatur:Das mythische Substrat

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Der Kleinverlag "Liebeskind" schickt internationale Autoren auf Lesereise

Von Christian Jooß-Bernau, München

Fünfzig Jahre ist sie her, diese Geschichte in Neuengland. Aber Eileen erinnert sich noch gut. An ihre schweren Wollröcke und die dicken Strumpfhosen. Und daran, wie sie sich vorstellte, die Eiszapfen über der Türe würden von den Dachsparren abbrechen und sie durchbohren. Ihre Brüste, ihre Schulter, ihr Gehirn. Eileens Erinnerung, das ist ein Keller, und in dem gären die Phantasmagorien einer unterdrückten Sexualität. Hier wankt der Vater, besoffen vom Gin. Und das einzige Licht in diesem finsteren Leben ist die Aura, die Rebecca umgibt, diese Schöne, die eines Tages in der Anstalt für jugendliche Straftäter auftaucht, in der Eileen arbeitet. Man ahnt allerdings: Rebecca ist ein Irrlicht, das in diesem Noir-Krimi Eileen auf den falschen Weg führen wird.

Persönlich getroffen hat der Leiter des Münchner Verlags Liebeskind, Jürgen Kill, seine neue Autorin Ottessa Moshfegh noch nie. Bis jetzt lief der Kontakt über E-Mails. Für Lesungen ihres Romanes "Eileen" hat Kill sie nun aus Los Angeles nach Deutschland geholt und freut sich, sie kennenzulernen. Er hat nämlich die Erfahrung gemacht, "dass hinter den bösesten Büchern die nettesten Leute stehen". Moshfegh muss ziemlich nett sein. 1981 geboren, kommt sie aus der Generation junger Autoren, die jetzt zum Erfolg drängen. Nur muss ihnen eben jemand dafür eine Bühne geben. Aufmerksam wurde Kill auf Moshfegh, als das englische Literaturmagazin Granta sie auf seine Liste der 20 besten jungen Autoren Amerikas setzte. Mit "Eileen" kam sie auf die Shortlist des Man Booker Prize. Und Kill schlug zu.

17 Jahre gibt es den Verlag jetzt. Es ist eine Geschichte der Entdeckungen. "Wir haben noch nie den potenziellen Bestseller aufs Tablett serviert bekommen", sagt Kill. Fünf Jahre nach der Gründung machten sie erstmals Bücher die sich gut verkauften. Belohnt wurde Liebeskind für die Zähigkeit mit eigenen Bestsellern. Der erste war 2010 Thomas Willmanns etwas anderer Heimatroman "Das finstere Tal", ein Jahr darauf folgte der Western "Deadwood" von Peter Dexter. Die meisten Titel finden sie bei Liebeskind ohne die Hilfe von Agenten. Die Idee: Sich absetzten vom Mainstream, das finden, was die Großen übersehen haben. "Wühlarbeit" sei es, sagt Kill. Willmann stand seinerzeit tatsächlich mit seinem Manuskript in einer Plastiktüte im Liebeskind-Laden, den es damals noch am Gärtnerplatz gab. 2013 sind sie umgezogen, ins Däntl-Haus im Tal.

Der Brite Hari Kunzru gastiert in München. (Foto: Sophia Spring)

Den Engländer Hari Kunzru, dessen Roman "White Tears" gerade bei Liebeskind veröffentlicht worden ist, beobachtet Kill schon länger. Seine Vorgängerromane erschienen noch bei anderen Verlagen auf Deutsch - ohne ihm hierzulande allerdings den Durchbruch zu bringen. "White Tears" hat das Zeug zu größerem Erfolg. Um einen Blues-Song geht es, den zwei Musikproduzenten zufällig auf der Straße aufnehmen. Um dieses Lied bildet sich ein Wirbel aus Bedrohung und Verderben, von solcher Kraft, dass es Seth, den einen Produzenten, schließlich hinunter ins Mississippi-Delta spült. Die Gewissheit von Zeit und Raum wird brüchig, und aus den Rissen der Realität quillt ein anderes Amerika - voll Schuld und ohne Sühne.

Kunzru schaut kurz vor Moshfegh in München vorbei. Zwei internationale Autoren gleichzeitig auf Lesereise. Für einen kleinen Verlag ist das eine beachtliche Leistung. "Wir haben schon ein bisschen geschluckt", sagt Kill. Aber die Gelegenheit war günstig. Und da die beiden Autoren auch auf Literaturfestivals in Berlin und Hamburg auftreten, sind finanzielle Zuschüsse eingeplant. Mit heimischen Autoren käme so eine Lesereise natürlich billiger, aber erstens gibt es gar nicht so viele gute deutsche Autoren, wie Kill es sich wünschen würde, und zweitens, sagt er, würde ein deutscher Autor in der Güteklasse von Moshfegh und Kunzru gleich bei einem größeren Verlag landen.

Zugeschickt bekämen sie schon viel. Auch viel, was sich schon im Anschreiben "so ein bisschen komisch" anhört. Der Sound ist es, der für Kill entscheidend ist: "Sie können ja nach ein paar Seiten sagen, ob ein Autor gut ist." Und so will sich Kill auch gar nicht auf die Krimisparte festlegen lassen, auch wenn die bei Liebeskind mittlerweile echt erfolgreich bedient wird und sich zu ihr im weitesten Sinne eben auch die beiden neuen Bücher rechnen lassen. Man ahnt, dass diesen Verleger mit der leisen, konzentrierten Stimme nicht vorrangig die Thriller-Spannung durch einen Roman treibt. Für ihn öffnet sich mit dem Krimi ein Experimentierfeld in einem "extrem codierten Genre". Hier kann mit Literaturformen gespielt werden.

Die Amerikanerin Ottessa Moshfeg tritt in München auf. (Foto: Kimiya Ayubi)

Und schon wieder kehrt man zurück zum Sound, dem Beat der Sprache, und Kill erinnert sich an James Sallis' Roman "Driver", den Liebeskind 2007 veröffentlicht hat. Wie Sallis die Handlung zerschnipselt, neu zusammensetzt und so eine Geschwindigkeit erzeugt, die mit der Handlung korreliert, das hat ihn begeistert. Kill ist nämlich überzeugter Strukturalist, sagt er. Es würden doch immer die gleichen Geschichten erzählt. Liebe, Tod, Sex. Aber: "In jedem Roman gibt es ja so ein mythisches Substrat", spricht Kill und entschuldigt sich noch im selben Atemzug, dass sich dies jetzt so geschwollen anhöre.

Man spürt allerdings, dass dieser Verleger tief in seine Bücher eintaucht und sie für sich begreifbar macht. "Ich spreche jetzt nicht druckreif", sagt Kill während des Treffens. Und da schimmert ein hoher Anspruch an das eigene Schaffen durch. "Ich langweile mich schnell", hat er in einem ersten Gespräch vor Jahren der SZ erzählt. "Es ist nicht besser geworden", sagt er heute. Ottessa Moshfegh und Hari Kunzru haben den Anforderungen dieses Verlegers stand gehalten. Jetzt übernehmen die Leser.

Hari Kunzru, Montag, 18. September, 20 Uhr, Buchhandlung Lehmkuhl, Leopoldstraße 45; Ottessa Moshfegh, Mittwoch, 20. September, 20 Uhr, Literaturhaus; www.liebeskind.de

© SZ vom 15.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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