Literatur aus der Schweiz:Gepflegter Schrecken

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Menschen im Hotel, 1933: Alain Claude Sulzers Roman "Postskriptum" will partout ein Erfolgsroman sein.

Von Thomas Steinfeld

In den ersten Wochen des Jahres 1933 zieht sich ein berühmter, wenn auch schon ein wenig alternder österreichischer Filmschauspieler in die Schweizer Berge zurück. Er ist mindestens so bekannt wie Emil Jannings, aber selbstverständlich ein besonders schöner Mann, ein Schwarm der Frauen. Das Hotel, in dem er eine Suite auf der Beletage bezieht, um sich auf eine weitere Hauptrolle vorzubereiten, ist das Waldhaus in Sils, eine der berühmtesten Herbergen der Alpen, die auch damals schon einen eigenen Platz in der Geschichte des höheren Übernachtungswesens beanspruchen konnte.

Der Schauspieler, in Lemberg geboren, obwohl das keiner weiß, stammt aus einer jüdischen Familie, was auch kaum einer weiß. Homosexuell ist er überdies, und auch darauf wären die vielen Frauen, die den noch Göttergleichen verehren, nie gekommen. Der frühe Tod seines älteren Bruders wirft einen kleidsam tragischen Schatten auf sein Leben. Und so trinkt er seinen Champagner, träumt in seinen weißen Laken mit Blick über den See, unterhält eine kleine Affäre mit dem örtlichen Postbeamten - bis sein Geliebter, ein korrupter Kunsthändler, im Waldhaus auftaucht, um ihn davon zu unterrichten, dass er in keiner Hauptrolle mehr auftreten wird, jetzt nicht und nie wieder, jedenfalls so lange, wie das "Dritte Reich" besteht.

Selbstverständlich trachtet ein Schriftsteller nach dem Erfolg. Die meisten tun es jedenfalls, und zum Gedanken an den Erfolg gehört mindestens, sich einen Gegenstand des Schreibens zu suchen, mit dem der Schriftsteller nicht allein bleibt. Es sind die tausendfach erzählten und millionenfach bebilderten Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, die einem möglichst zahlreichen Publikum das Wiedererkennen und Sich-Wiederfinden besonders leicht machen. Eine Geschichte aus diesen Tagen, in der sich ein Professor der Altphilologie als guter Mensch erweist, indem er abgelehnten Asylbewerbern ein Zuhause gewährt? Das ist vielleicht nicht schlecht. Eine Anekdotensammlung aus der mittleren Vergangenheit, in der sich alles versammelt, was die späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre an Abenteuern der Sinne und der Theorie so hervorbrachten? Das ist möglicherweise noch besser.

Gelegentlich treffen hier Lippen auf glühende Wangen

Ein homosexueller, jüdischer Filmstar, der vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten fliehen muss, um dort in der Anonymität zu versinken, während sein Geliebter die Kunstschätze wohlhabender Juden an Adolf Hitler und Hermann Göring verkauft, den Geplünderten dabei aber noch als Retter erscheint? Eine solche Geschichte könnte, nach der Affäre um den Kunstsammler Cornelius Gurlitt, beinahe unschlagbar sein.

Alain Claude Sulzer, ein Schweizer Schriftsteller in mittleren Jahren, Autor von einem Dutzend Romanen, hat diese Geschichte nun geschrieben, in einem gepflegten Salonton, der gelegentlich, etwa eingedenk von Lippen auf glühenden Wangen, vor dem Schwulst nicht zurückweicht. Er hat ihr den Titel "Postskriptum" gegeben - weil sich, in einer gleichsam psychoanalytischen Wendung, ihr Grund erst am Ende offenbart. Diese Nachschrift ist ihm zu einem heiklen, ja fragwürdigen Buch geraten. Das liegt nicht daran, dass er seine Figuren in einer ebenso vertrauten wie vertraut schrecklichen Periode des zwanzigsten Jahrhunderts unterbringt. Das tun andere Schriftsteller auch, und es sind gute Bücher aus solchen Versuchen hervorgegangen. Es liegt daran, dass er seinen Helden so bruchlos in die Zeitgeschichte fügt, dass er und seine Welt geradezu gespenstisch unanfechtbar werden: ein traumatisiertes Kind, ein gut aussehender Mann, ein sinnlicher Liebhaber, ein Schauspieler, der so sprechen kann, dass man ihm alles glaubt, ein Homosexueller, ein Jude.

Und der Vater war mit Sigmund Freud befreundet und der Sohn mit dem Violinisten Fritz Kreisler, und das Hotel Waldhaus war ein einsamer Ort für viele berühmte Menschen, und wenn der kleine Postbeamte in seiner kalten Wohnung über dem Kontor ein Grammofon anwirft, dann kommt es unweigerlich zu einer Wiederholung des Kapitels "Fülle des Wohllauts" in Thomas Manns "Der Zauberberg".

So türmt sich ein Klischee auf das andere. Luchino Visconti taucht auch noch auf, Thomas Mann wird in der Limousine vorgefahren (unter Pseudonym, aber mehr als deutlich, einschließlich obligatorischem Verweis auf die "lange unterdrückten geheimen Neigungen"), und am Ende darf sogar Greta Garbo (mitsamt vermutlich lesbischer Freundin) in der hintersten Reihe sitzen. Diese bunten Bilder aber dienen alle demselben Zweck. Sie sind auf die rückhaltlose Zustimmung des Lesers zum Buch berechnet: Ja, das ist vertraut, ja, das erkennt man wieder, ja, da fiele einem auch noch etwas ein. Demselben affirmativen Zweck dienen schließlich die seltsamen Einmischungen des Erzählers in die Handlung: "Zwei Tage später würde sich die Welt verändert haben, und viele würden mit wehmütigen Gefühlen auf das letzte Wochenende zurückblicken, an dem Hitler noch nicht an der Macht gewesen war." Und so reichen sich Autor und Publikum die heißen Händchen, und alle seufzen ein bisschen, und von der Zeit, in der dies alles spielt, hat keiner etwas erfahren.

Alain Claude Sulzer: Postskriptum. Roman. Verlag Galiani Berlin, Berlin 2015. 255 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 17,99 Euro.

© SZ vom 22.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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