Lido:Traumkontrolle

Von Schlüsselfilmen und Spielerstücken - Neues von Wim Wenders, Gianni Amelio, Marziyeh Meshkini und Gregory Jacobs.

Von Susan Vahabzadeh

Es beginnt mit dem Bild einer Stadt im Halbschlaf, die Hochhäuser von Downtown L.A. im Morgengrauen... "Ich glaube, dass einem Film ein Traum vorausgehen muss", hat Wim Wenders einmal geschrieben, "entweder ein regelrechter Traum, an den man sich beim Aufwachen erinnert, oder ein Tagtraum." Sein neuer Film "Land of Plenty", der am Lido im Wettbewerb Premiere hatte, erzählt von Wenders' amerikanischem Traum, von einem Ort, an dem die zarten Pflänzchen Unschuld und Naivität gedeihen dürfen, und davon, wie sie nach 9/11 zu ersticken drohen.

Liebe zu den USA

"Land of Plenty" ist ein Dokument der Liebe, seiner Liebe zu den USA, die wie zu einem Kind oder einem Lebensgefährten ist oder zu seinen Eltern, die man auch dann nicht fallen lässt, wenn sie den falschen Weg einschlagen: Heimat, heißt es, ist kein Ort, es sind Menschen. Paul (John Diehl) ist eine Art Möchtegernterminator, ein heruntergekommener Vietnamveteran, der mit einem selbstgebastelten Überwachungswagen durch die Straßen von Los Angeles gondelt und nach potentiellen Terroristen sucht.

Die endlosen Selbstgespräche, in denen er jede seiner Beobachtungen aufzeichnet, sind definitiv zu lang - aber man spürt, wie Wenders da zu erkunden versucht, was in diesem wirren Kopf vorgeht.

Paul trifft auf seine Nichte Lana, die Michelle Williams ganz wundervoll spielt, naiv, ohne je dumm zu wirken, ein Mädchen, das eben aus Israel kommt und in einer Mission arbeitet. Sie interessieren sich nicht für Armut in Amerika in der Westbank, sagt sie bei ihrer Ankunft. Dafür interessieren sie sich nicht mal im Westwing, antwortet ihr neuer Boss. Freiheit ist teuer; aber von den Zusammenhängen zwischen Armut und dem Niedergang von Demokratie erzählt "Land of Plenty" dann doch nicht so viel, wie die ersten Szenen hoffen lassen.

Es wird eine schön bizarre, nicht gerade überhastete Jagd nach einer vermeintlichen Terroristengruppe daraus - eine Geschichte von tragischen Clowns, über die sich Wenders in keiner Sekunde erhaben fühlt.

Humor und Einfallsreichtun

Auf Humor und Einfallsreichtum wartet man bei Gianni Amelios "Le chiavi di casa" vergebens. Der Film wirkt wie ein typischer Festivalsieger: Ein junger Mann aus Mailand, Gianni, fängt an sich um seinen behinderten 12-jährigen Sohn zu kümmern, den er vorher nie gesehen hat. Charlotte Rampling spielt eine Frau, die sie im Krankenhaus in Berlin kennenlernen, und es kommt einem so vor, als ob sie engagiert wurde, damit der Vater jemandem erzählen kann, wie es kam, dass er das Kind nie gesehen hat - die Mutter ist, erst 19, bei der Geburt gestorben.

"Die Hausschlüssel" ist solide Arbeit, aber mehr auch nicht. Amelio, der hier bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, ging als Favorit ins Rennen - und dass die Biennale-Leitung und ihre politischen Geldgeber quengeln, weil sie den Löwen gern mal wieder im Land behalten würden, ist bekannt. Aber man hat nicht das Gefühl, dass Amelio den Film nur gemacht hat, weil man mit solchen Geschichten Jurys beeindruckt.

"Straw Dogs", das neueste Stück aus der Makhmalbaf-Fabrik, wirkt schon eher so: zwei afghanische Kinder, deren Eltern beide im Knast sitzen - der Vater ist Taliban und hat die Mutter verhaften lassen, weil sie wieder heiratete, als er in den heiligen Krieg zog -, schlagen sich durch, schlafen in Kartons oder auf der Straße. Der Film hat ein paar starke Szenen: Der Gefängnisaufseher, der die zwei nicht zu ihrer Mutter lässt, sagt, sie sei eine Hure - und der Kleine kriegt immer einen Wutanfall, wenn er den Kerl sieht, so sehr er sich auch um Diplomatie bemüht...

Aber spätestens, wenn am Ende noch die "Fahrraddiebe" ins Spiel kommen, kommt einem das ganze sehr spekulativ vor; vergeben muss man der Regisseurin Marziyeh Meshkini und ihrem Produzenten Mohsen Makhmalbaf aber doch, weil die Makhmalbafs eben nicht aufhören werden, Filme über Afghanistan zu machen, bis es den Afghanen besser geht.

"Criminal": Leichtfüßiges Genrekino

Nach soviel erdenschwerer Melancholie ist "Criminal" das neueste Stück aus der Clooney/Soderbergh-Werkstatt unbedingt eine Erholung - leichtfüßiges Genrekino mit Siebzigerjahre-Charme und Retro-Musik. Auch hier spielen die Straßen von L.A. die Hauptrolle, die Welt jenseits von Beverly Hills - der Film korrespondiert sehr schön mit Wenders' "Land of Plenty" Inszeniert hat "Criminal" Gregory Jacobs, Soderberghs Regieassistent und gelegentlich auch Produzent seit "King of the Hill". "Criminal" ist ein Remake des argentinischen Films "Nine Queens" von Fabian Bielinsky.

Rodrigo (Diego Luna), der ab und zu Kellnerinnen beim Geldwechseln um ein paar Dollar betrügt, gerät an Richard (John C. Reilly), der ein wesentlich erfolgreicherer weil skrupelloser Betrüger zu sein scheint - der Mann nimmt alte Damen aus, hat seinen Ex-Kompagnon übers Ohr gehauen und macht selbst vor seinen jüngeren Geschwistern nicht halt.

Aber so gut ist Richard gar nicht - er kann die Unterstützung des Jungen mit dem Engelsgesicht gut gebrauchen, als sich eine Riesenchance mit einem falschen historischen Geldschein ergibt. Es geht darum, wer wem trauen kann, und darum, dass ein Mann ohne Emotionen ein schlechter Betrüger ist: weil er nicht genug fühlt, um sich hineinzuversetzen in andere, sie einzuschätzen. Am Ende wirkt "Criminal" wie eine Parabel aufs Geschäft mit dem Kino: Es geht allen ums Geld, sogar denen, die man für zarte Seelchen gehalten hat oder für unbeugsame Starrköpfe.

Viele Filme brauchen keinen Traum, auch das hat Wenders geschrieben, weil sie keine emotionellen Investitionen sind, sondern finanzielle. Aber finanziert werden müssen auch die schönsten Tagträume.

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