Libyen: Gaddafis Gedankenwelt:"Warum raubt ihr mir meine Ruhe?"

Es gab stets mehrere Arten von Diktatoren auf der Welt. Muammar al-Gaddafi gehört zu jenen, die sich für Auserwählte halten. Über seine politischen Texte und Gedichte kann man leicht lachen. Doch was steht wirklich in seinen Schriften?

Günther Orth

Es gab immer mehrere Arten von Diktatoren auf der Welt. Ben Ali und Mubarak gehörten zu den weniger charismatischen. Sie wollten nur uneingeschränkt regieren und stehlen, und als sie merkten, dass beides nicht mehr störungsfrei ging, gaben sie irgendwann auf.

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Schon 1970 ließ sich Gadaffi von der italienischen Autorin Mirella Bianco eine Biographie schreiben, die im Arabischen den Titel Gaddafi, der Prophet aus der Wüste trug.

(Foto: dpa)

Männer wie Nicolae Ceausescu oder Zia ul-Haq tyrannisierten ihre Länder im Namen der Ideologien, für die sie standen: Weltsozialismus hier, Islamisierung gegen kommunistischen Einfluss dort. Und es gibt Herrscher, die sich für Auserwählte halten - von der Geschichte, von Gott oder vom Schicksal. Das sind die schwereren Fälle.

Muammar al-Gaddafi gehört zweifellos zur letzteren Kategorie. Bereits 1970 ließ er sich von der italienischen Autorin Mirella Bianco eine Biographie schreiben, die im Arabischen den Titel "Gaddafi, der Prophet aus der Wüste" trug. Er erfand für Libyen die Bezeichnung "Große Sozialistische Libysch-Arabische Volks-Dschamahirija", gab seinem Land eine neue Zeitrechnung inklusive Phantasienamen für die Monate und eine neue Flagge und schrieb das "Grüne Buch", Untertitel: "Die dritte Universaltheorie" (nach Kapitalismus und Sozialismus). Dessen erstes Kapitel erschien 1975, in den Folgejahren kamen zwei weitere dazu. Keiner der drei Teile erfordert länger als dreißig Minuten Lesezeit. Dennoch wurden in ganz Libyen "Zentren zur Erforschung des Grünen Buches" aufgebaut.

Gaddafi schrieb aber auch politische Essays zu Themen wie Korea, Kurdistan, Kaschmir, die UN oder den möglichen EU-Beitritt der Türkei, eine Streitschrift über Israel und Palästina sowie eine kleine Sammlung von "Geschichten" ("Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten"), die tatsächlich wirken, als stammten sie von einem fernen Stern. Was aber steht eigentlich in all diesen Texten?

Gegenstand des Spottes

Das Grüne Buch wurde oft als sozialistische Drittweltkampfschrift verstanden. Tatsächlich war Gaddafi im weitesten Sinne links; sein Putsch gegen den westfreundlichen libyschen König Idris wäre ohne Nassers "arabischen Sozialismus" nicht denkbar gewesen, und in Libyen begründete er eine Art Wohlfahrtsstaat. Die ersten beiden Teile des Grünen Buchs befassen sich denn auch mit der "Lösung des Demokratieproblems durch Volksmacht" und der "Lösung des Wirtschaftsproblems durch Sozialismus". Nur der dritte Teil zur "Gesellschaft" trägt keine Problemlösungs-Überschrift.

Es ist leicht, über die unzähligen Tautologien, Wiederholungen und improvisierten Postulate dieses Buches zu lachen. Es wurde auch schnell zum Gegenstand des Spottes der gebildeten Araber, auch außerhalb Libyens.

"Das Grüne Buch bietet die endgültige Lösung des Problems des Regierungsinstruments", heißt es einleitend - das ist ein typischer Gaddafi-Satz. Parlamentarische Demokratie, erfahren wir, sei Diktatur, denn: "Ein politischer Kampf, dessen Ergebnis der Sieg eines Kandidaten mit 51 Prozent der Wählerstimmen ist, führt zu einem diktatorischen Regime, das sich nur demokratisch nennt, denn 49 Prozent werden von einer Regierung beherrscht, die sie nicht gewählt haben."

Ebenso diktatorisch sei auch das Mehrheitswahlrecht, bei dem ein Kandidat mit den relativ meisten Stimmen gewinnt, auch wenn die Mehrheit der Wähler nicht für ihn gestimmt habe. Parlamente? "Ein Hindernis zwischen dem Volk und der Machtausübung, da sie die Massen von der Politik ausschließen und alle Macht an sich reißen (...) Die ganze Macht muss dem Volk gehören."

Da dies letztlich bedeutet, dass niemand über niemanden herrschen darf, kann Gaddafi wohl als Anarchist bezeichnet werden. Und tatsächlich will er noch heute sich und die Welt glauben machen, dass er nicht zurücktreten könne, weil er kein Amt habe und die Macht 1977 an sein Volk übergeben habe. Da aber ein Volk nicht gegen sich selbst rebellieren kann, muss es sich bei der Revolte in Libyen um eine Verschwörung von außen handeln.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, was Gaddafi über die Rollen von Mann und Frau denkt.

Wie die Dinge wirklich sind

Die Demokratie Gaddafis besteht aus Basisvolksräten, in denen die gesamte Bevölkerung zusammentritt und ihre Beschlüsse über Regionalräte an einen eigentlich regierenden Generalvolkskongress weiterreicht. Details über das Funktionieren eines solchen Systems führt der Verfasser nicht an: Die Idee auf dem Papier muss ausreichender Beweis für den Genius des Revolutionsführers sein. Er verspricht ein bald schon anbrechendes Zeitalter der Massen, das nur deshalb noch nicht verwirklicht sei, weil "in der Realität immer die Starken herrschen. Der stärkere Teil der Gesellschaft regiert", hadert Gaddafi am Ende. Die Libyer erfahren dies gerade schmerzlich.

Gaddafi kämpft mit Tricks und diplomatischen Winkelzügen

Die Schwarzen, so schreibt Gadaffi, "betreiben bei ständig heißem Wetter Müßiggang".

(Foto: dpa)

Interessant ist auch, was Gaddafi über die Rollen von Mann und Frau denkt. "Frauenärzte sagen, dass Frauen jeden Monat menstruieren, Männer aber nicht. (...) Wenn eine Frau nicht menstruiert, ist sie schwanger", schreibt er. Ah ja. Dazu komme dann noch das Stillen nach der Entbindung. Aus all dem wird abgeleitet, dass es frauen- und männerspezifische Arbeit gebe und der Lebensmittelpunkt der Frau die Erziehung der Kinder sein müsse.

Hieran ist bei Gaddafi nicht zu rütteln, alles andere sei Zwang gegen die Natur der Frau, Verhütung sei fast so etwas wie Mord - und selbst Kindergärten seien widernatürlich und nicht besser als "Hühnermastbetriebe". Es folgen blumigste Ausführungen zur Natur des weiblichen Wesens, die nicht nur Feministinnen Schauer über den Rücken jagen können.

Eine Auswahl: "Männliche Tiere und Pflanzen sind von Natur aus kräftig und robust. Die Weibchen dagegen sind bei Pflanzen, Tieren und Menschen schön und sanftmütig. Das sind natürliche und ewige Tatsachen, die allen Lebewesen angeboren sind, seien es Menschen, Tiere oder Pflanzen." Frauen sind "genau wie Blumen, die dazu geschaffen sind, mit Pollen bestäubt zu werden und Samen zu erzeugen".

Gegen Ende des Buches folgt noch eine nur sehr kurz ausgeführte These, die besonders bizarr wirkt, bedenkt man, dass ein libyscher Herrscher sie formuliert hat, der den Panafrikanismus für sich entdeckte und sich 2008 zum "King of Kings of Africa" krönen ließ: Als Antwort auf die Versklavung durch die Weißen werden die der Schwarzen schon bald "die Welt beherrschen".

Die Begründung dafür macht dann aber doch sprachlos: Die Schwarzen lebten allesamt so rückständig, schreibt Gaddafi weiter, dass sie permanent heirateten und keine Familienplanung betrieben, die Folge dieses Verhaltens sei eine ungehemmte Vermehrung. Und Zeit dazu hätten sie auch, denn im Gegensatz zu anderen Rassen "betreiben sie bei ständig heißem Wetter Müßiggang".

Zum Abschluss des Buches kommt dann noch ein antiautoritärer Gaddafi zu Wort. Man dürfe Schülern, so heißt es im Abschnitt über Bildung, in der Schule keine Fächer aufzwingen, die sie nicht wollten, und Sportveranstaltungen zum Zuschauen seien auch abzulehnen, denn Sport müsse von den Massen selbst betrieben werden. Aber das werden die Menschen schon noch lernen, denn es gilt Gaddafis Fazit: "Unwissenheit wird es dann nicht mehr geben, wenn alles so dargestellt wird, wie es tatsächlich ist und das Wissen darüber jedem Menschen in einer Weise zur Verfügung steht, die zu ihm passt."

Und der Revolutionsführer wird schon wissen, wie die Dinge wirklich sind. Einer, der sich selbst zum Revolutionsführer gemacht hat, dann auch noch die Theorie zu seiner Revolution liefert und über 40 Jahre lang regiert, der tritt nicht ab. Er kann in seinem Größenwahn nicht mehr zwischen sich und seinem Land unterscheiden.

Lesen Sie weiter auf Seite 3, wie überraschend friedfertig Gaddafi sein kann.

Flucht in die Hölle

File photo of Libyan leader Muammar Gaddafi during a news conference inside his Bedouin tent erected in the heavily fortified Bab El-Assaria barracks on the outskirts of Tripoli

In seinem literarischen Text Flucht in die Hölle, 1993 erschienen, beschließt der Staatenlenker, diese Zuflucht sei besser als das Erdenleben: "Alles um mich herum verschwand, außer mir selbst." Das Foto stammt von1986.

(Foto: Reuters)

Weniger bekannt ist, dass Gaddafi in seinem 2003 erschienenen Büchlein "Isratin - Das Weiße Buch" quasi nebenbei eine überraschend friedfertige Lösung des Nahost-Problems dargelegt hat. Isratin ist eine Verquickung von "Israel" und "Filastin" (arabisch für Palästina). Der Titel "Das Weiße Buch" lehnt sich an historische "Weißbücher" zu Palästina an. Gaddafi weist in der Einleitung in bekannter Bescheidenheit darauf hin, dass "jeder von diesem Buch abweichende Vorschlag in jeder Weise ungeeignet" wäre. Doch wer Gaddafi bisher als Unterstützer militanter palästinensischer Gruppierungen kannte und erwartet, der Autor würde einen bewaffneten Kampf gegen Israel propagieren, liegt falsch.

Der Verfasser macht in "Isratin" zunächst einen Schwenk ins Alte Testament, um zu belegen, dass Palästina historisch von vielen verschiedenen Völkern bewohnt wurde. Daher gelte: "Historisch gesehen kann niemand behaupten, das Land gehöre ihm allein. Es besitzt zudem auch keine Gruppierung lediglich Anrecht auf einen Teil Palästinas unter Ausschluss des Restes."

Dass die Gründung eines jüdischen Staates auch auf europäischen Antisemitismus zurückzuführen war, gesteht Gaddafi zu. Doch auch wenn Palästina nicht notwendigerweise das Land gewesen sei, in dem diese Staatsgründung zu vollziehen war, fordert er in seinem Buch implizit die Anerkennung Israels, auch wenn er nur vom "sogenannten Staat Israel" spricht.

Hat Gaddafi etwas gegen Juden? Nein, würde man sagen, wenn man liest: "Die Juden sind eine glücklose Gemeinschaft. Sie erlitten seit alters viel Unheil von Seiten der Herrscher, von Regierungen und von anderen Völkern." Doch Gaddafi kennt auch den Grund dafür: "Es ist dies der Wille Gottes, wie er im Koran erwähnt ist, seit der Zeit des ägyptischen Pharaos und des Königs von Babylon (...) Sie waren allen Arten von Unterdrückung durch die Ägypter, die Römer, die Engländer, die Russen, die Babylonier und die Kanaaniter ausgesetzt. Dazu kam das, was ihnen unter Hitler angetan wurde." Gott wollte es eben so.

Zwischen Arabern und Juden aber, so Gaddafi weiter, bestehe "keinerlei Feindschaft", sie hätten historisch immer "in Frieden und Freundschaft" gelebt - weshalb die Lösung in einem Staat für Juden und Palästinenser liege: Isratin.

Den tiefsten Einblick in Gaddafis Psyche gibt allerdings ein literarischer Text aus seinem 1993 erschienenen "Geschichten"-Band: "Die Flucht in die Hölle" wirkt wie das Selbstgespräch eines träumenden oder hypnotisierten Autokraten, der seinen Urängsten vor den Volksmassen freien Lauf lässt: "Die Tyrannei eines Einzelnen ist die schändlichste aller Tyranneien, doch der Despot ist ein Einzelner, den die Gemeinschaft beseitigen kann (...) Die Tyrannei der Massen dagegen ist die brutalste Art von Tyrannei, denn wer kann sich allein gegen den reißenden Strom, gegen die blinde, umfassende Macht stellen?"

Prophetisch und entlarvend wirken solche Sätze, ebenso wie dieser: "Ich liebe die Massen wie meinen Vater, und ich fürchte sie, wie ich ihn fürchte." Im Weiteren beklagt er sich über die Maßlosigkeit seiner Untertanen, die dauernd verlangen, ihr Führer möge ihnen Häuser und Straßen bauen. "Diese Massen, die nicht einmal barmherzig zu ihren Errettern sind, ich glaube, sie verfolgen mich, verbrennen mich. Selbst wenn sie klatschen, habe ich das Gefühl, dass sie mit dem Hammer schlagen." Dabei sieht der Erzähler sich selbst als "armen, herumschweifenden Beduinen, der nicht einmal eine Geburtsurkunde hat".

Zutiefst gespaltene Person

Das Leiden des Herrschers, der nun tadelnd zum Volk spricht, hat viele Gesichter: "Warum raubt ihr mir meine Ruhe? Ja, ihr nehmt mir sogar die Möglichkeit, durch eure Straßen zu gehen. Ich bin ein Mensch wie ihr. Ich liebe Äpfel. Warum lasst ihr mich nicht auf den Markt gehen? Warum gebt ihr mir keinen Reisepass? Aber was soll ich mit einem Reisepass? Es ist mir untersagt, aus touristischen Gründen oder um mich behandeln zu lassen, auszureisen. Nur wenn ich mit einer Mission beauftragt werde, darf ich ausreisen."

Daher beschließt der Staatenlenker, in die Hölle zu fliehen. Die Hölle, so der (auf Dantes Spuren?) träumende Gaddafi, ist eine Zuflucht, die besser ist als das Erdenleben: "Alles um mich herum verschwand, außer mir selbst. Meiner eigenen Existenz wurde ich mir bewusster als an jedem anderen Ort und zu jeder anderen Zeit." In seinen Visionen wird er hier eins mit seiner Seele, "nicht weil meine Seele außerhalb von mir gewesen wäre, sondern weil mir eure Hölle nicht die Gelegenheit gegeben hat, mit meiner Seele je allein zu sein."

Vielleicht sind die Angriffe gegen das aufbegehrende Volk heute Gaddafis Rache an jenen Untertanen, die er schon immer für undankbar und tyrannisch gehalten hat. In jedem Fall aber sind solche literarischen Texte vielschichtiger und lebendiger als die politischen Abhandlungen des Herrschers.

Gaddafis Schriften spiegeln eine zutiefst gespaltene Person, die sich nie entscheiden konnte, ob sie Weltenlenker oder Dorfbeduine, Revolutionstheoretiker oder Literat sein wollte - daher wohl auch seine abwechslungsreiche Kostümierung. Dieser Mann will alles gleichzeitig sein und können. Doch wenn ein Herrscher anfängt, das von sich selbst zu glauben - dann bleibt seinem Volk nur die Rebellion.

Dr. Günther Orth ist Übersetzer und Dolmetscher für Arabisch. Er lebt in Berlin.

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