Leute vom Dorf:Was für eine Nacht!

Buchmesse Leipzig - Buchpreis

Nach dem Preis der Leipziger Buchmesse: Saša Stanišić.

(Foto: picture alliance / dpa)

Der Heimatroman "Vor dem Fest" von Saša Stanišić - nun inszeniert als ein Spiel für Stimmen.

Von Florian Welle

In der Nacht vor dem Geburtstag können Kinder meist nicht schlafen - sie sind zu aufgeregt. Eine ähnliche Unruhe hat auch alle Einwohner Fürstenfeldes in den nächtlichen Stunden vor dem Annenfest ergriffen - auch wenn in dem Örtchen in der Uckermark keiner so recht weiß, was genau man da eigentlich feiert.

Das ist auch ziemlich gleichgültig. Die Feier bildet für Saša Stanišić den Anlass, die Protagonisten seines tragikomischen, im vergangenen Jahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Romans "Vor dem Fest" aus den Betten zu jagen, hinaus in die Dunkelheit, dicht auf ihren Fersen: die inneren Dämonen. "Heute Nacht hat das Dorf keinen Geschlechtsverkehr", heißt es trocken.

Da ist Wilfried Schramm. Saša Stanišić bemüht dreist einen Klassiker und lässt den ehemaligen Oberstleutnant der NVA auf der Suche nach einem funktionierenden Zigarettenautomaten herumirren, in der Tasche eine Pistole, mit der er seiner Tristesse ein Ende setzen will. Da ist die alte Frau Kranz, deren Gemälde seit Jahrzehnten nur ein Motiv kennen - Fürstenfelde und seine Bewohner. Sie geistert am Seeufer entlang, um zum ersten Mal das Dorf bei Nacht zu malen. Dabei gehen ihre Gedanken weit zurück, ans Ende des Krieges, als die Russen einmarschierten und sie vor den Soldaten nicht sicher war. Bei Morgengrauen wird sie nicht nur durchgefroren, sondern auch ganz "durcherinnert" sein. Und da ist eine Fähe, die auf leisen Pfoten durch die Gegend schleicht, auf der Suche nach frischen Eiern für den Nachwuchs.

Judith Lorentz hat nun Saša Stanišićs geschichts- wie geschichtensatten Provinzroman für den Rundfunk Berlin-Brandenburg als einstündiges Hörspiel adaptiert. Und dabei etwas freigelegt, was so noch nicht bemerkt wurde, aber im Grunde naheliegend ist: "Vor dem Fest" kann als deutschsprachige Antwort auf Dylan Thomasʼ legendäres Hörspiel "Unter dem Milchwald" gesehen werden.

Llareggub hat Thomas sein fiktives Städtchen einst genannt, dessen verschrobenen Einwohnern er von der Morgen- bis zur Abenddämmerung auf Schritt und Tritt folgt. Stanišić wiederum lauscht seinen fiktiven Dorfbewohnern und deren (Selbst)Gesprächen von abends bis morgens. So, als hätte er Dylan Thomasʼ Erzähler wörtlich genommen, der zu Beginn von "Under Milk Wood" den Hörer auffordert: "Horch, es ist Nacht". Um sodann das menschliche, allzumenschliche Treiben in Llareggub erwachen zu lassen.

"A Play for Voices" - ein Spiel für Stimmen nannte Dylan Thomas "Under Milk Wood". Ein Spiel für Stimmen ist auch bei Judith Lorentz herausgekommen. Sie hat sich auf einige Romanfiguren wie Frau Kranz und Herrn Schramm konzentriert, andere mit kurzen Auftritten - etwa die Jungs Lada und Suzi - zu Nebenfiguren gemacht, was in diesem Fall legitim ist. Die Passagen, in denen Stanišić aus alten Chroniken berichtet, hat die Regisseurin ganz gestrichen. Wie im Buch, so gibt es auch im Hörspiel einen Erzähler, der das kollektive Wir, die innere Stimme des Dorfes Fürstenfelde, zur Sprache bringt.

Markus Meyer ist dieser Erzähler. Er spricht leise und ein bisschen traurig in mehr oder weniger gleichbleibendem Tonfall - an manchen Stellen wirkt das dann etwas zu träge, kommt der spezifische Witz der Vorlage zu kurz. Umso überzeugender: Jaecki Schwarz. Er gibt einen tollen Oberstleutnant: mal wehleidig, mal gemeingefährlich. Ganz der Mann "mit Haltung und mit Haltungsschaden", der die Welt nicht mehr versteht. Christine Schorn als nachtwandelnde Frau Kranz schnoddert vor sich hin und lässt die Malerin so unwiderstehlich patent wirken. In Kontrast dazu: Effi Rabsilber, die der Fähe einen Märchenton mit auf ihre Schleichwege gibt. Zusätzlich für eine bizarre Atmosphäre sorgt die Komposition von Lutz Glandien. In ihr plätschert und gurgelt, sirrt und flirrt es: "Was für eine Nacht!"

Saša Stanišić: Vor dem Fest. Mit Christine Schorn, Jaecki Schwarz, Effi Rabsilber, Marc Hosemann u.a. Der Hörverlag, München 2015, 1 CD, ca. 63 Minuten, 14,99 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: