Lesung mit Günter Grass und Peer Steinbrück:"Der Grass war ziemlich anstrengend"

Lesung Peer Steinbrück und Günter Grass

Peer Steinbrück (links) und Günter Grass im Willy-Brandt-Haus: Bei dem Auftritt kritisierte der Nobelpreisträger die "Abschaffung" der Wehrpflicht: "Jetzt haben wir den Salat: Eine Söldnerarmee, die in Auslandseinsätze geht." 

(Foto: dpa)

Er müsse dann mal weg, scherzt Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, als ihm droht, auf der Bühne von Günter Grass genauso kritisiert zu werden wie vor Jahrzehnten Willy Brandt. Dann wird die Lesung des Briefwechsels zwischen Grass und Brandt doch noch zum freundschaftlichen Abend bei der SPD. Und der umstrittene Schriftsteller spielt noch einmal Wahlkampfhelfer.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Zu anarchisch, ein Bürgerschreck sei dieser Günter Grass, befand ein gewisser Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister von Berlin, als er vor mehr als einem halben Jahrhundert 30 deutsche Schriftsteller einlud, um sie für den Wahlkampf der SPD zu gewinnen.

Das war 1961 und ergo stand Grass nicht auf der Liste. Doch der Autor, zuvor mit der "Blechtrommel" zu Weltruhm gelangt, ließ sich davon nicht abhalten, ging trotzdem zu dem Treffen - und war schon kurz darauf als Einziger unter den Auserwählten als SPD-Wahlkampfhelfer an Bord.

Wie er sich fortan drei Jahrzehnte lang mit dem späteren Bundeskanzler Brandt schriftliche Wortgefechte darüber lieferte, wie dieses Land zu regieren und zu retten sei, davon zeugt der nun erschienene Band "Willy Brandt und Günter Grass - Der Briefwechsel" (Steidl-Verlag).

Um diesen vorzustellen, an stolze alte Zeiten anzuknüpfen und wohl auch ein bisschen, um den aktuellen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück ins nostalgisch-schwärmerische Licht des inzwischen beliebtesten SPD-Kanzlers aller Zeiten zu rücken, lud die SPD am Mittwochabend zur Vorlesung des Briefwechsels zwischen Günter Grass und Willy Brandt sowie zum anschließenden Podiumsgespräch zwischen Günter Grass und Peer Steinbrück ins Willy-Brandt-Haus.

Eigentlich eine nette Idee, Erhellendes und Erheiterndes gab es an diesem Abend dann tatsächlich auch zu hören. So zum Beispiel eine Stunde lang teils messerscharfe Worte und Widerworte der beiden freundschaftlich verbundenen intellektuellen Kampfhähne Brandt und Grass in Briefform, vorgetragen von zwei Schauspielern.

Vom Bürgerschreck zum Vertrauten des Bundeskanzlers - und zurück

"Lieber Herr Brandt", schreibt Grass etwa 1965 zu einem gemeinsamen Auftritt von Willy Brandt und Helmut Schmidt, er komme nicht umhin, Teile von dessen Rede zu kritisieren: "Helmut Schmidts Rede und Ihre Rede hoben sich im Sinne einer Steigerung zwar gut voneinander ab. Dennoch machte in Schmidts Rede ein Zuviel an satirischem Charme und Improvisation den Mangel an satirischem Charme und Improvisation in Ihrer Rede deutlich." Der Anlauf sei zu stockend gewesen, die Satzenden verschwimmend - er wünsche Brandt für die Zukunft allen Grund, wenn schon nicht zum Lachen, dann doch wenigstens zum Lächeln.

An anderer Stelle fragt Grass in Bezug auf die SPD: "Wie könnte man die Resignation, die kleinbürgerliche Selbstzufriedenheit, die komplexbeladene Unterwürfigkeit der Partei austreiben und anstelle ein Selbstbewusstsein setzen, dass sich nicht aus Minderwertigkeitsgefühlen nährt?"

Dass im Gegenzug Brandt zwar immer höflich und wohlformuliert zurückschreibt, auf im Schnitt drei Briefe von Grass aber meist nur einer von Brandt folgt, damit macht der Politiker allerdings jederzeit klar, wer am längeren Hebel sitzt.

Kampfeslust und Widerborstigkeit

Der Briefwechsel auf insgesamt 1230 Seiten liest sich als interessantes Stück Zeitgeschichte auf der einen und als illustres Spiel mit Macht, Sprache, Kampfeslust und Widerborstigkeit auf der anderen Seite. Beiden Akteuren gemein: die Leidenschaft. Für Politik - und Sprache.

Und doch wurde der Zuschauer an diesem Abend den Eindruck nicht los, dass dem Vergleich zwischen Rückschau und Gegenwart der SPD eher etwas Verzweifeltes anhaftet. Und das liegt, laut Peer Steinbrück, vor allem an den Kritikern.

"In den Sechziger Jahren waren die Intellektuellen jedweder Art eher bereit, sich in die Politik einzumischen", so Steinbrück, von Moderator Wolfgang Thierse danach befragt, ob ein Typ wie Grass als politischer Berater heute überhaupt noch vorstellbar wäre: sehr kritisch, aber dennoch freundschaftlich, nicht besserwisserisch, sondern solidarisch.

"Der Grass war ziemlich anstrengend", scherzt Steinbrück. Dennoch: "Ich würde mich freuen, wenn sich die Intellektuellen noch heute noch einmischen würden. Stattdessen: Still ruht der See."

Was noch gesagt werden musste

Auch viele Medien würden, so Steinbrück, weniger gesellschaftliche Debatten begleiten als "im Zuge der medialen Verwertungsgeschwindigkeit stattdessen tagespolitisch gerade das skandalisieren und politisieren, was sich anbietet".

Er hat in diesem Punkt teilweise recht: Während dem SPD-Kanzlerkandidaten jeder schiefe Ton auf dem Silbertablett serviert und jede einzelne Verfehlung monatelang nachgetragen wird, kann sich die Kanzlerin der Hofberichterstattung vieler Boulevardmedien in diesem Lande sicher sein.

Vom Umkehren der Verhältnisse

Trotzdem ist es bemerkenswert, wie es sowohl Steinbrück als auch Grass an diesem Abend gelingt, so manches Verhältnis umzukehren: Nicht die Politik ist schuld, wenn ihr die Wähler verloren gehen, sondern der Nichtwähler muss an seine staatsbürgerliche Verantwortung erinnert werden.

Nicht die Politik ist auch beispielsweise schuld, wenn die Bundeswehr zum Heer von, wie es Grass formuliert, schwer zu kontrollierenden Söldnern verkommen sei, sondern der Bürger in Uniform müsse das Heer von rechtschaffenen Berufssoldaten freiwillig aufrechterhalten.

Steinbrück machte sich an diesem Abend zwar auch Gedanken darüber, was der Staat für seine Bürger tun könne - aber fast genauso viele Gedanken machte er sich darum, was die Bürger für den Staat tun sollten.

Im Umkehren der Verhältnisse und der Schuld war auch Günter Grass lange groß: Sechs Jahrzehnte lang hatte er seine Mitgliedschaft bei der Waffen-SS geheim gehalten, bis er sie 2006 in seinem autobiografischen Roman "Beim Häuten der Zwiebel" offenlegte. Gleichzeitig war er jahrzehntelang einer der moralisch schärfsten Kritiker ehemaliger Nationalsozialisten gewesen, auch zu seiner Zeit als schriftstellerischer SPD-Botschafter.

Dieser nicht unerhebliche Schwenk dürfte dazu beigetragen haben, dass seine Glaubwürdigkeit und sein bis dahin unbestrittener Ruf als deutscher Autor von Weltrang schon erheblich gelitten hatten, als er im vergangenen Jahr mit zwei Gedichten über Israel und Griechenland noch einmal für Aufruhr sorgte.

Wobei man betonen muss: Nicht alle Rezensenten gingen mit diesen provokativen, aber doch nicht jeglicher Grundlage entbehrenden Gedichten so um, wie es ihnen gebührt hätte. Was wohl wiederum auch an jener Mischung lag, die Günter Grass nun offenbar Zeit seines Lebens mit sich herumgeschleppt hat: einen nicht immer glücklichen Mix aus literarischem und politischem Engagement.

Mit Steinbrück in "Willys" Bar

Was man ihm allerdings nicht vorwerfen kann: dass er sich nicht engagiert hätte. Warum das so ist und er sich auch im hohen Alter von 85 Jahren mit gebeugtem Gang noch immer für die Politik einspannen lässt, das erklärte Grass an diesem Abend noch dem Publikum: Er habe immer schon eine "verblüffenderweise gesteigerte Lebenslust angesichts anstrengender Situationen" verspürt, und ohne das Gefühl der Sisyphusarbeit würde er sich "zu Tode langweilen".

In diesem Sinne schoss er noch ein bisschen gegen Merkel, aber nicht übers Ziel hinaus ("Da sehen wir heute eine Frau Merkel, die es in kurzer Zeit zustande bringt, zu allen europäischen Nachbarn das Verhältnis zu trüben"), gab Steinbrück ein paar Tipps mit auf den Weg ("Die Schere zwischen Reichtum und Armut in einem reichen Land und in nicht mehr entschuldbarem Ausmaß muss ein Dauerthema sein", Steinbrück sei doch der Richtige, um "Ross und Reiter" zu nennen), signierte am Ende geduldig Bücher (auf Wunsch auch "mit dem roten Stift, meine Frau ist Deutschlehrerin"), und ließ den Abend in "Willys" Bar ausklingen, bei Weißwein und Mini-Buletten mit dem Kanzlerkandidaten wieder ins politische Gespräch vertieft.

Nein, am Ende ist dieser Grass noch lange nicht. Er ist nur alt geworden.

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