"Les Misérables" im Kino:Phantastisches Elendskino

"Les Misérables" im Kino: Ganz nah dran, keine Spur mehr von Bühnendistanz - Hugh Jackman tröstet Anne Hathaway in ihrem Musical-Elend.

Ganz nah dran, keine Spur mehr von Bühnendistanz - Hugh Jackman tröstet Anne Hathaway in ihrem Musical-Elend.

(Foto: Universal)

Tom Hooper hat kühn das Erfolgsmusical "Les Misérables" verfilmt und seine Stars - Hugh Jackman, Russell Crowe, Anne Hathaway - gezwungen, live zu singen. Ein Meisterstück der Klaustrophobie. Denn selbst der Freiheitskampf ist hier ein Rückzugsgefecht der Revolution.

Von Fritz Göttler

Sie sind eines der ganz großen Paare der Welt, so berühmt in ihrem Widerspiel wie Don Quijote und Sancho, Bouvard und Pécuchet, Laurel und Hardy. Legendär ihr Katz-und-Maus-Spiel, das sich zu einem über tausend Seiten dicken Roman auswächst, Valjean und Javert, zwei Besessene, zwei Overperformer, was die Menschlichkeit angeht der eine, die Unerbittlichkeit des Rechts der andere.

Victor Hugos "Les Misérables" ist immer schon einer der heißesten Stoffe der Kinogeschichte gewesen, wurde Dutzende Male verfilmt, seit der Stummfilmzeit, mehrfach in Frankreich natürlich und in Hollywood, auch diverse japanische Versionen gibt es - darunter ein Anime, "Jean Valjean Monogatari" - und mexikanische, indische, türkische.

In Hugos Werk sind Engagement und Literatur zusammengebracht - der Tagesschreiber und der Schriftsteller, in der exemplarischen Konfrontation von Barthes -, und das Engagement hat überlebt, als Melodram, mit Pathos und opernhafter Larmoyanz.

Die individuelle Geschichte, von Victor Hugo subtil in der komplexen frühkapitalistischen Epoche des 19. Jahrhunderts verankert, ist zum Populärgut geworden, zum globalen Moralstück über die Suche nach Menschlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft.

Jean Valjean, einst verurteilt , weil er einen Laib Brot für die hungernde Familie stahl, wird 1815 entlassen, nach neunzehn Jahren Bagno, aber von seinem Aufseher wird ihm dabei sogleich bedeutet, dass er auch sein weiteres Leben Nr. 24601 bleiben werde, als Sträfling ausgeschlossen von der Gesellschaft - der gelbe Pass, die Meldepflicht, die Vorurteile der Menschen.

Nicht zuletzt Javert, der Aufseher, will darauf achten - eine Schicksalsgemeinschaft, immer wieder begegnen die beiden einander in den folgenden Jahren. Valjean entzieht sich der Kontrolle, er startet unter neuem Namen ein neues, erfolgreiches Leben - seine private Revolution, das Gegenstück zu der gesellschaftlichen dann von 1832 im zweiten Teil, die Valjean merkwürdig unberührt durchwandelt.

Er hat eine Ziehtochter aus dem Elend gerettet, Cosette, sich eine bürgerliche Position geschaffen. Am guten Menschen Valjean bricht sogar die sture Rechtsbesessenheit Javerts.

Rohstoff der Revolution

Am klassischen amerikanischen Filmmusical begeistert bis heute die Geräumigkeit, es hat seine Apotheose in den Fünfzigern erlebt, mit Technicolor, Cinemascope und stereophonem Sound, mit Astaire und Kelly, Minnelli und Produzent Arthur Freed.

In den Nummern wird utopisch Freiheit reflektiert, im Singen und Tanzen, die Dialektik von Körper und Geist. Tom Hoopers "Les Mis", eine britische Produktion, ist dagegen ein Film ohne Bewegungsfreiheit, angesiedelt in Gefängnissen, Fabriken, Kanalgängen, meistens nachts.

Selbst der Freiheitskampf ist ein revolutionäres Rückzugsgefecht, Barrikadenkampf im vorhaussmannschen engen Paris. "Les Mis" ist phantastisches Elendskino, seine Klaustrophobie erinnert an die in Tom Hoopers vorigem Film, dem oscarprämierten Supererfolg "The King's Speech", über den stotternden König George VI., der feststeckt zwischen Repräsentationszwang und sprachlichem Defekt.

Tom Hooper hat bei der Verfilmung darauf bestanden, das ganze Stück live zu drehen, die Akteure - Hugh Jackman als Valjean, Russell Crowe als Javert, Anne Hathaway, das Gaunerpaar Sacha Baron Cohen und Helena Bonham Carter und die großartig unglückselige Samantha Barks - selber singen zu lassen, ohne Playback.

Man sollte den Stars die Anstrengung ansehen, die es ihnen bereitet, sich mit den Liedern auseinanderzusetzen, und durch die Lieder mit ihren Figuren, ihrem Geschick. Die Musicalnummern, eher ein eintöniger Singsang, mit ein paar Ausreißern wie "I Dreamed a Dream", sind als Rohstoff genommen, auf die kinotechnischen Möglichkeiten der Perfektionierung zu verzichten, das ist Tom Hoopers Form von Realismus. (In der deutschen Fassung sind absurderweise die Songs im Original mit Untertiteln belassen, aber die kleinen Dialogsätze dazwischen deutsch synchronisiert.)

Tom Hooper geht nah ran an die Menschen, in vielen Großaufnahmen, sogar Handkamera, er akzentuiert schmerzhaft das Monologische im Musical. Russell Crowe, wenn er nachts über den Dächern von Paris steht, den Sternen nah, seine Entschlossenheit versichernd, Valjean zu jagen, wenn er, als Sänger nicht unerprobt, von dem Material des Songs dennoch überfordert ist, eher kläglich klingt - das ist bewegend, ein Bild des Jammers, der Einsamkeit. Musical verité. Es ist ein kalter Film, eine Kälte, die klärt und purifiziert, stärker als jede Flamme der Revolution.

Les Misérables, GB 2012 - Regie: Tom Hooper. Buch: William Nicholson, Alain Boublil, Claude-Michel Schönberg, Herbert Kretzmer. Nach dem Musical von Boublil/Schönberg, nach dem Roman von Victor Hugo. Kamera: Danny Cohen. Musik: Claude-Michel Schönberg. Mit: Hugh Jackman, Russell Crowe, Anne Hathaway, Amanda Seyfried, Sacha Baron Cohen, Helena Bonham Carter, Eddie Redmayne, Samantha Barks. Universal, 158 Minuten.

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