10 Jahre nach Erfurt - Lehren aus Amokläufen:Schule des Tötens

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Erfurt, Emsdetten, Winnenden, Utøya. Ein neues Buch zeigt, wie Amokschützen weltweit voneinander lernen. Es zieht verblüffende Parallelen. Und gibt Hoffnung, dass Prävention nicht unmöglich ist.

Verena Mayer

Seit der Schüler Robert S. vor genau zehn Jahren am Erfurter Gutenberg-Gymnasium sechzehn Menschen und sich selbst erschoss, ist viel passiert. Schulen erhielten Pager, um Alarm auszulösen. Es gibt Notfallpläne, wie sich Schüler und Lehrer "bei Amoklage" zu verhalten haben. Sie sollen die Türen verschließen, nicht versuchen zu fliehen. Sie sollen Polizei und Schulleitung verständigen, notfalls mit einem Plakat auf sich aufmerksam machen. Der Zettel, den die Schüler am 26. April 2002 an eine Fensterscheibe klebten, ist zum Symbol des Chaos und der Ausweglosigkeit dieses Tages geworden. "Hilfe" war in krakeliger Schrift darauf gemalt.

Seit dem Massaker in Erfurt 2002 hat sich viel geändert: Reagierten Polizei und Behörden damals noch überfordert, gibt es inzwischen Notfallpläne für solche "Amoklagen". (Foto: dpa)

Die penible Aufarbeitung der Tat hatte nicht zuletzt jene gespenstische Routine zur Folge, die am 11. März 2009 in Winnenden zu beobachten war. Der Schüler Tim K. tötete an der Albertville-Realschule acht Mädchen, einen Jungen und drei Lehrerinnen, flüchtete und erschoss drei Menschen und sich selbst. Sofort waren Psychologen und Kriseninterventionsteams zur Stelle, dazu die Medien und Vertreter der Stadtverwaltung von Erfurt, die die Behörden berieten. Sie stellten fest, dass man in Winnenden nach 24 Stunden so weit sei, "wie wir nach 14 Tagen". Amokläufe sind in Deutschland zur Bedrohung geworden, mit der man rechnet.

Und jeder Amoklauf birgt die Gefahr, Vorbild für den nächsten zu sein. Dieser These widmet die Autorin und ehemalige DDR-Spitzensportlerin Ines Geipel ihr neues Buch. "Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens" heißt es. Fünf Fälle arbeitet Geipel darin auf, einen aus Tasmanien, drei aus Deutschland, und am Ende sogar topaktuell die Tat von Anders Breivik in Norwegen. Tatsächlich sind Amokläufe eine Art Lehrbuch - für die Täter. Tim K. googelte nächtelang "Erfurt" und "Massaker", ehe er mit der Beretta seines Vaters in den Schulbus stieg. Sebastian B., der 2006 an der Geschwister-Scholl-Realschule in Emsdetten schoss, Rauchbomben zündete und fünf Menschen schwer verletzte, verfolgte auf N24 Live-Berichte über einen Amoklauf in Montreal. Alle Amokläufer beschäftigten sich mit Eric Harris und Dylan Klebold, die 1999 an der Columbine High School zwölf Lehrer und einen Schüler töteten. Der Amoklauf von Littleton wurde seither nicht nur in Filmen und Büchern verarbeitet. Er ist auch zur Blaupause aller Amokläufe geworden.

Der Amok-Komplex" besticht durch seine Materialfülle. Unzählige Details hat Geipel zusammengetragen. Die Aufzeichnungen der Notrufe von Erfurt etwa. Panische Schüler und Lehrer wählen 110 ("Ja, hallo, hier ist Suse aus der Schule. Hier wird, hier wird geschossen."), die Polizei versucht, Herr der Lage zu werden ("Wir brauchen einen Notarzt und mehr Kräfte. Wir sind völlig ohne Deckung."). Dazwischen ruft dauernd ein Busfahrer an, dem ein Auto die Vorfahrt genommen hat. ("Wir haben einen Amokschützen, und da kommen wir jetzt nicht" - "Das kann doch nicht wahr sein!"). Protokolle, die das ganze Ausmaß der Hilflosigkeit und Überforderung zutage bringen.

Aufschlussreich ist auch die Liste der Waffen, die die Familie des Amokläufers von Winnenden im Einfamilienhaus hatte. Oder die Tagebücher des Amokläufers von Emsdetten, der immerzu die Buchstaben "S.A.A.R.T." notierte. "Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod. Das ist der Lebenslauf eines normalen Menschen heutzutage." Geipel wertet das psychiatrische Gutachten über das "bizarre, paranoide Wahnvorstellungssystem" von Anders Breivik aus, notiert die vielen Neologismen, die er erfand. "Ritter-Justitiarius" oder "Ritter-Justitiarius-Großmeister", Hierarchien aus einer Fantasy-Welt, ähnlich dem Spiel "World of Warcraft", mit dem Breivik sich die Zeit vertrieb.

Am interessantesten sind allerdings die Zeugenaussagen von Eltern, Verwandten und Geschwistern der Täter. Ob es nun um Robert, Tim oder Sebastian geht - es läuft immer auf das große Schweigen hinaus. Nichts wurde in den Familien ausgesprochen, schon gar nicht das Offensichtliche, die Außenseiterrolle der Täter, ihr fanatisches Interesse für Waffen. Geredet haben Eltern und Kinder höchstens über das Essen. Tim K. lobte den Rührkuchen seiner Mutter, ehe er sich mit einem Rucksack voller Munition auf den Weg machte.

Methodisch kann man Geipel vorwerfen, dass sie nicht die gängige Unterscheidung trifft zwischen "School Shootern", die auf ihre Schule abzielen, und "Spray Shootern", die wahllos auf öffentlichen Plätzen töten. Die Geschichte des geistig Behinderten Martin Bryant, der 1996 in einem Café im tasmanischen Port Arthur 35 Menschen erschoss, steht neben den Amokläufen an deutschen Schulen, am Ende geht es um die Anschläge und Morde von Anders Breivik. Andererseits erschließt sich dadurch eine verblüffende Austauschbarkeit der Fälle. Das kleinbürgerliche Milieu, der Erfolgsdruck der Väter, der sich auf die versagenden Söhne überträgt. Sowohl Sebastian B. als auch Tim K. bekamen von ihren Vätern das Schießen beigebracht. Alle Amokläufer waren zudem fasziniert von Theater und Rollenspielen. Eric Harris' Lieblingsbuch war "Cyrano de Bergerac", Sebastian B. schrieb Theaterstücke. Der sonst schwache Schüler Robert S. fiel durch sein Engagement für die Schulaufführung von "Antigone" auf.

In deprimierender Deutlichkeit macht "Der Amok-Komplex" klar, wie sehr sich Amokläufe auf der ganzen Welt ähneln. Immer wurden sie von langer Hand vorbereitet, nie schenkte jemand den Anzeichen Beachtung. Die Mutter von Robert S. dachte sich nichts dabei, als sie im Zimmer ihres Sohnes über eine Tasche mit Munition stolperte. Als Psychiater bei Tim K. eine Persönlichkeitsstörung abklären wollten, lehnte der Vater ab. Stattdessen nahm er den Sohn mit zum Schießstand, damit er unter Leute kommt. Doch genau dies macht Hoffnung. Die Prävention von Amokläufen ist offenbar nicht besonders schwer. Man muss nicht einmal Computerspiele verbieten oder sämtliche Schützenvereine schließen. Es reicht, auf die unzähligen Hinweise zu achten, die die Jugendlichen selbst geben.

Der einzige Schwachpunkt des Buches ist, dass Ines Geipel nicht mit ihrem Furor hintanhalten kann. Statt der Aussagekraft ihrer Quellen zu vertrauen, macht sie ein riesiges Fass auf, wenn es um die Ursachen geht. Geipel schwadroniert über "Angstkultur" und ein "Topsystem der Destruktion", über den Nationalsozialismus, die DDR und die Folgen, die der Erste Weltkrieg in der deutschen Psyche hinterließ. Die Tat von Erfurt ist flankiert von einem wirren Kapitel über die politischen Seilschaften in Thüringen. Unfreiwillig bedient Geipel damit ein Muster der Verdrängung, wie man es nach vielen spektakulären Verbrechen beobachten kann. Der Mensch sieht eben lieber eine politische Verschwörung am Werk, das System oder das kollektive Unbewusste. Weil man dadurch ausblenden kann, wie nahe einem die Abgründe stehen, in Gestalt des Mitschülers, Sohnes, Nachbarn.

INES GEIPEL: Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012. 343 S., 19,90 Euro.

© SZ vom 26.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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