Leben mit Anstand:Ein Reihenhaus im Garten Eden

Ist die Ratte nicht ein Geschöpf Gottes? Aber natürlich. Der Brite Leo Hickman erteilt Ratschläge zur ethisch korrekten Lebensführung - jetzt endlich auch in Deutschland

Birgit Weidinger

Was heißt: ethisch leben? Juliett Witman aus Boulder, Colorado, hat dazu eine klare Meinung: "Wo ich wohne", schreibt sie, "gibt es viele Menschen, die sich Gedanken machen über Recycling, Bio-Lebensmittel, umweltbewußtes Leben, Rechte der Tiere und so weiter. Sie denken über alles Mögliche nach; aber die Obdachlosen an der Straßenecke sehen sie nicht. Meiner Meinung nach sind sie die provinziellsten, egoistischsten Menschen auf diesem Planeten. Ethisch zu leben heißt im Wesentlichen, sich um andere zu kümmern."

Lifestyles of Health and Sustainability

Und Rachel X. sagt zur Frage, ob man in unserer Welt Kinder bekommen solle oder nicht: "Damit ringe ich seit Jahren. Ich habe einmal einen Artikel darüber gelesen, was es kostet, in Großbritannien ein Kind aufzuziehen. Nach Mittelklasse-Standards belief sich die Summe auf ungefähr 125 000 Pfund (die Kosten fürs College und Studium waren darin nicht enthalten!). Staunend überlegte ich mir, wie viele Kinder man mit so viel Geld in einem bedürftigeren Land großziehen könnte. Ich glaube, in diesem Moment beschloss ich, lieber gar keine Kinder zu bekommen und meine 125 000 Pfund an ein Land zu überweisen, wo man viel mehr damit anfangen kann."

Juliett und Rachel: Zwei Stimmen aus der vielstimmigen internationalen Gemeinschaft von E-Mail-Schreibern, die mit Leo Hickman korrespondieren, seit der Redakteur der englischen Tageszeitung The Guardian seine wöchentlichen Kolumnen und ein Buch über seinen "abenteuerlichen Versuch" eines ethisch korrekten Lebens veröffentlicht hat. (Die deutsche Ausgabe ist unter dem Titel "Fast nackt" soeben bei Pendo erschienen.) Das Echo war immens, und es hält weiterhin an: E-Mails mit Kritik, Sympathiebekundungen, Anregungen, privaten Erfahrungen.

Ein Reihenhaus im Garten Eden

Hickman hat die Botschaften der Lesergemeinde in sein Buch einbezogen, als wichtigen Hinweis darauf, wie sich unser Umweltbewusstsein entwickelt. Der Trend zur Bioethik wächst. Nicht nur in Deutschland: Biokost ist hier beliebt und gefragt, die kleinen Bioläden der Anfangszeit sind auf dem Rückzug, die deutschen Einkaufsriesen Aldi, Lidl, Plus haben Bioprodukte in ihr Sortiment aufgenommen. Der Anteil der Discounter am Ökomarkt wuchs in Deutschland 2005 um 51 Prozent. Wer heute Bio kauft, will im Gegensatz zu den grünen Glaubenssätzen der Anfangszeit nicht so sehr der Welt etwas Gutes tun, sondern vor allem sich selbst. Angesichts dieses Wachstums besteht allerdings die Gefahr, dass die biologische Landwirtschaft in ähnliche Zwänge wie die konventionelle Massenproduktion gerät.

In den USA haben die Biotrendsetter inzwischen einen eigenen Namen: Die "Lohas" sind Menschen, die "Lifestyles of Health and Sustainability" pflegen, Lebensformen voller Gesundheit und Nachhaltigkeit. Hollywoodstars wollen auch etwas vom Öko-Heiligenschein abbekommen, kaufen umweltfreundliche Autos, rüsten auf Solarenergie um, nutzen Bioprodukte, stehen auf Biomode.

Bewusster Konsum, so der Tenor, kann eine Menge bewirken. Die aus England stammende Bewegung "We Are What We Do" (Wir sind, was wir tun), die jetzt auch in Deutschland angekommen ist, hat ein Paperback herausgebracht mit dem Titel "Einfach die Welt verändern". Darin geben die Verfasser ethisch korrekte Tipps, die nicht neu sind, aber mit Humor verpackt. 60 000 Exemplare wurden in den ersten beiden Monaten nach dem Erscheinen verkauft. Man will offen sein für neue Ideen, misstrauisch gegen politische Schönredner, will gegensteuern gegen die Machtmechanismen der Konzerne.

Leo Hickman glaubt, dass auch in England Grün auf dem Vormarsch ist - nicht nur in Form politischer Lippenbekenntnisse. Er verweist auf die Naturkatastrophen des vergangenen Jahres, die Klimaveränderung, die gestiegenen Ölpreise, die das Bewusstsein der Bürger mobilisieren. Dass er begonnen hat, sich für das ethisch korrekte Leben zu interessieren, könnte auch damit zusammenhängen, dass er 300 Meter entfernt vom Projekt Eden in Cornwall aufwuchs. Die Idee zu diesem Garten Eden, einem riesigen Botanischen Garten mit den größten Gewächshäusern der Welt, die die verschiedenen Klimazonen zeigen, entstand 1995 und wurde in den folgenden Jahren umgesetzt. Der junge Leo sah, wie der Garten Eden wuchs und gedieh. Und wie damit den zahlreichen Besuchern die Umwelt, in der sie leben und die natürlichen Reichtümer der Erde wieder näher gebracht werden. Hat Eden auch seine Phantasie inspiriert?

Hickmann, der heute, mit 31, als Redakteur für Verbraucherfragen beim Guardian arbeitet, mag das nicht ausschließen. 2003 suchte er nach einem neuen Kolumnenthema - mit weitreichenden Konsequenzen. Bis dahin hatte er mit Frau Jane und Tochter Esme eine übliche, ganz komfortable Existenz als Besitzer eines viktorianischen Reihenhauses mit Garten in einem Londoner Außenbezirk, geführt. Nun fasste er den Entschluss, seine täglichen Gewohnheiten als Konsument unter die Lupe zu nehmen und einige Monate ein "ethischeres Leben" zu führen, als Gutmensch. Leo Hickman sagte sich selbstkritisch, in Kenntnis seiner Schwächen, dass so ein Entschluss leichter gefasst als umgesetzt ist. Holte sich deshalb sachkundige Unterstützung von drei Fachleuten für Ernährung und Umweltschäden; recherchierte über die Macht von Konzernen und Regierungen. Was genau mit einem ethischen Lebensstil gemeint war? Keine neuen Gebote und Verbote, sondern kluge Entscheidungen zwischen schwierigen Alternativen. Zum Beispiel: Wegwerfwindeln oder Ökowindeln, Auto, Bus oder Zug auf dem Weg zur Arbeit, ungebleichtes Altpapier für die Toilette anstelle des superweichen von Sainsbury"s. Der "ethische" Hickman wurde also nicht zum heiligen Leo und zum allwissenden Prediger. Bekannte vielmehr seine Zweifel und Unsicherheiten, mit viel Sinn fürs Absurde.

Als das zweite Hickman-Kind auf die Welt gekommen ist, macht die Familie unverdrossen weiter mit ihrer ethischen Lebensführung. Hat nach wie vor kein Auto, hält den Transport des Doppelbuggy in der U-Bahn manchmal für todesmutig, vermeidet lange Ferienflüge, versucht so wenig Fleisch wie möglich zu essen. Und in seiner Eigenschaft als Gärtner findet es Leo herzerwärmend, dass der Kompost aus dem Küchenabfall vom vergangenen Jahr nun tatsächlich als Dünger für die Beete verwendet werden kann. Dank des Einsatzes nützlicher Kompostwürmer, die anfangs viel Ärger und Ekel verursachten.

In den 14 Kapiteln seines Buches nimmt der Autor kein Blatt vor den Mund. Dabei herrscht im Eifer des Experimentierens und des Fortschritts bei den Hickmans keineswegs immer eitel Freude. Frau Jane protestiert manchmal verhalten, manchmal heftig. Etwa gegen die stinkenden Probleme, die der Wurmkomposter macht. Das ist der Gartenkompost, der mit Spezialwürmern aufbereitet wurde, zur schnelleren Abfallbeseitigung. Dass der Weg zum ökologisch-biologischen und politischen Gutmenschen auch mit Stolpersteinen gepflastert ist, nicht nur, wenn es um Würmer geht, zeigt sich bei der Rattenvernichtung. Ist das Nagetier nicht ein Geschöpf Gottes? Aber natürlich. Doch angesichts der grässlichen Rattenplage gelangt Hickman zu der Erkenntnis, dass wir uns manchmal eben zuerst um uns selber kümmern müssen. Ein bisschen Egoismus darf schon sein.

Gutmenschen müssen viel grübeln und abwägen, etwa bei der Frage, die angestammte Bank zu wechseln gegen eine Bank mit erklärt ethischer Unternehmenspolitik. Meint Hickman es ernst, wenn er schreibt, es quäle ihn der Gedanke, dass ethische Überlegungen ab einem gewissen Punkt von finanziellen Notwendigkeiten eingeholt werden? "Ethisch zu leben ist in Ordnung, solange man es sich leisten kann", sagt er.

Auch mit dem Gemeinsinn und der Bürgerpflicht, findet Hickman, sei das so eine Sache. Man sollte sich engagieren, tut es aber dann doch nicht. Hickman will den Sinn für das noble Anliegen stärken. Und tatsächlich, er entdeckt eine Möglichkeit, gibt einmal die Woche Leseunterricht.

Die ethischen Berater der Hickmans bleiben wichtige Bezugspersonen. Er könne aus seinem Kopf nicht löschen, was sie ihm sagen, meint Hickman. Weiterhin schreibt er seine Kolumne für den Guardian. Untertitel: The Guide to a good Life - Wege zu einem guten Leben. "Good": Das bedeute nach wie vor, sagt er, nicht als bloßer Konsument leben zu wollen. Man müsse sich dabei allerdings vor dem Eindruck hüten, besser dastehen zu wollen als andere. "Ich kann nur für meine eigenen Handlungen verantwortlich sein."

Auch die E-Mail-Gemeinde bleibt mit dem Hickmanschen Kosmos eng verbunden, sie wirkt als Katalysator und trägt Ideen weiter. Will begreifen, will Feed-back, reagiert nach wie vor heftig mit Zuspruch und Widerspruch. Weiß auch, dass Hickmans Experiment nicht aufhören wird: "Mit vereinten Kräften", so heißt es einmal in einem aggressiven Kommentar zum Thema Konsumrausch an Weihnachten, "mit vereinten Kräften können wir den ganzen Weihnachtsschrott boykottieren. Wir zeigen unseren Freunden und unserer Familie unsere Liebe, indem wir ihnen Zeit schenken." Wenn das so einfach wäre, seufzt Hickman. Immerhin: Die E-Mail-Gemeinde sieht sich als aktive Mitkämpferin, nicht nur als kommentierender Geleitzug des Autors.

Er selbst meint heute, das ursprünglich auf ein halbes Jahr begrenzte Experiment werde sein ganzes Leben dauern. Nein, die Themen würden ihm sicher nicht ausgehen. Zwei seiner jüngst im Guardian erschienenen Kolumnen befassen sich mit der Frage, ob man Diamanten kaufen und tragen solle und ob es okay sei, eine Digitalkamera zu benutzen.

Zu Hause lacht Tochter Esme über die Kompostwürmer, die Eltern lernen den korrekten Umgang mit Baby Jessica und freuen sich über die prächtig wuchernde Vegetation und Insektenwelt im Garten. Die Prada-Schuhe, die sich Jane gewünscht hat, kamen nicht ins Haus. Wohl aber eine Ziege. Und geplant ist - Hickman sagt es ganz selbstverständlich und ohne Stolz - demnächst die Anschaffung einer Windmühle.

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