Lady Gaga in Berlin:Es gibt Schnurrbart, Baby

Lady Gaga Berlin

Mischung aus Madonna, Marlene Dietrich, Andy Warhol und Salvador Dali: Lady Gaga im Berghain in Berlin

(Foto: Tobias Schwarz/Reuters)

Wenn die Show wichtiger ist als die Musik: Lady Gaga gibt im Berliner Nachtclub Berghain eine "Listening Session" ihres neuen Albums. Die Lieder sind weiterhin Mainstream, doch ihr Auftritt ist einzigartig. So wie ihre Fans.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Die Schlange vor dem Berghain ist zwar lang - aber kürzer als gewöhnlich. Gedrängelt wird auch nicht, die Berliner lassen es mal wieder ruhig angehen. Die meisten wissen, dass sie sowieso in die Halle des Clubs reinkommen, der 2009 zum besten der Welt gekürt wurde. Weil sie auf der Gästeliste stehen. Und dann geht es auch nur um Lady Gaga. Die war schließlich erst vor einem Jahr in der Stadt. Danach wurde es ruhig um sie - und jetzt ist sie eben wieder da.

Hysterische Hauptstadt-Szenen mit Hunderten von Teenagern wie vor dem Hotel, in dem die 27-jährige Musikerin tags zuvor eingecheckt hat, gibt es hier nicht. Auf der anderen Seite des Gebäudes, hinter einem Tor, werden länger als sechs Stunden ein paar Hardcore-Fans stehen und beobachten, wie die Organisatoren, Securitymitarbeiter, Journalisten, kuratierte Fans und Gewinner von Quizspielen zwischen Klohäuschen und Veranstaltungssaal hin und her schwirren. Näher werden sie ihrer Ikone an diesem Abend nicht kommen.

Ganz im Gegensatz zu den Auserwählten, die für diesen Abend von einem der Veranstalter zu Gewinnern auserkoren wurden. Sie kommen dem amerikanischen Popstar außergewöhnlich nahe. Karten gab es nicht zu kaufen und dies ist auch kein übliches Konzert. Sondern eine "Listening Session" ihres neuen Albums "Artpop", das Anfang November erscheint. Kleiner Lauschangriff mit Künstlerin also.

Sushi und ein bisschen Probekreischen

Das Konzept ist ungewöhnlich: Sushi speisen, vor der Bühne ein bisschen Probekreischen - und Kostüme vergleichen. Damit verbringen die Fans die rund zwei Stunden Wartezeit in der Berghain-Halle, bis es endlich losgeht. Zu gucken gibt es einiges, denn viele Fans sind standesgemäß gekleidet: Im silberglitzernden Weltraumkostüm mit viel Einblick, im Partnerlook mit Hahnentritt und hysterischen Hütchen, androgyne Wesen im Glitzerfummel, Mädchen mit pinkem, grauem, türkisem Haar - oder alles zusammen. Die Künstlerin hat 2008 mit ihrem außergewöhnlichen Kostüm-Fimmel den Gaga-Look ausgerufen - und viele hier folgen ihr. Daneben: Gäste aus dem Showbusiness, wie üblich ein Ochsenknecht-Sohn, Soapstars, Klum-Models, viele Voice-of-Germany-Teilnehmer, Moderatorennasen, Modedesigner Michael Michalsky - und Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Zeit.

Gaga selbst erscheint an diesem Abend als eine Mischung aus Madonna, Marlene Dietrich, Andy Warhol und Salvador Dalí. Ganz Diva, schlängelt sich die 1,55 Meter kleine Dame für die Kameras über den roten Teppich: die hellblonde Kurzhaarfrisur galant nach hinten gegelt, unter einem voluminösen Pelzmantel blitzen Strapse. Ansonsten trägt sie weitgehend blickdichte schwarze Unterwäsche - und Schnurrbart. Ein fast schon klassisches Bühnenoutfit für Gaga, die einst für Aufruhr in einem Kleid aus Fleisch sorgte und den Seifenblasen-Look liebt.

Im Berghain legt sie den Pelzmantel ab. Und wirkt wie eine leicht irre Wiedergängerin ihres Vorbildes, der Queen of Pop. Madonna Louise Ciccone, genannt Madonna, und Stefani Joanne Angelina Germanotta, genannt Lady Gaga, beide amerikanische Sängerinnen mit italienischen Wurzeln, tragen gerne Unterwäsche auf der Bühne. Doch während Madonna ihren Bühnenoutfits eine oft provokante, aber meist gefällige Optik abtrotzte, muss es bei Lady Gaga nicht schön sein. Nur anders.

Die Musik gerät in den Hintergrund

Die Performancekünstlerin lebt davon, dass ihre Auftritte einzigartig sind. Anders als etwa Amy Winehouse, die sich zwar auch nicht am üblichen Schönheitsideal messen ließ, stattdessen ihre Stimme und Stimmungen in den Vordergrund rückte, geht es bei Gaga in der Hauptsache um das Kostüm. Jedes Mal eine neue Bühnenfigur darzustellen, die ganz große Robe zu tragen, eine Mischung aus Theaterkostüm, Haute Couture und Alien, mit Anleihen an Kunstgeschichte, Kinofiguren und Modestile vielleicht noch kommender Jahrhunderte - das ist ihr Hauptaugenmerk. Die Musik gerät vor dieser exzentrischen Show in den Hintergrund. Das ist auch besser so, denn sie ist meist nicht der Rede wert. Mainstream, wie sie selbst sagt. Elektronischer Pop, der nie besonders eingängig ist, aber auch niemandem wehtut. Der Anspruch ist, diesen mit dem ganz großen Auftritt zu verknüpfen. Und der gelingt.

Obwohl die Lady hier gar keinen großen Auftritt hinlegt, sondern sich im Gegenteil betont demokratisch ins Publikum begibt. Zwar sind immer mindestens drei hochaufmerksame Leibwächter um sie herum und die drei Orte, an denen sie sich bewegt, sind vorher ausgesucht worden. Die Sitzgruppe, in der sie sich lässig fläzt, sorgt mit einer dicken Säule im Hintergrund dafür, dass es von keiner Seite unliebsame Überraschungen übergriffiger Besucher geben kann. Auch die stundenlang tanzenden Fans, mit denen sie sich auf der Bühne umgibt, sind gecastet. Und doch: Am Anfang gelingt es einem frechen Fan (ganz gentlemanlike im Anzug gekleidet, dazu Highheels), dem Millionen-Dollar-Babe an den Po zu fassen. Der Leibwächter wird kurz sehr wütend - doch Lady Gaga schaut eher angenehm überrascht über so viel Mut als eingeschüchtert oder abgeschreckt.

Die folgenden zweieinhalb Stunden badet sie in der Menge. Im wahrsten Sinne des Wortes: Als ob sie sich in einem ganz normalen Club befände, an einem ganz normalen Ausgehabend mit ganz normalen Freunden, sitzt sie mal im Eck, mal auf der Bühne, dann wiederum tanzt sie durch die Massen. Der Unterschied? Sie ist Gaga - und sie filmt sich und ihre Fans dabei. Betont chillig hängt sie mit den ausgesuchten Fans auf der Bühne ab, tanzt zu ihrer eigenen Musik und feuert das Publikum an. Man könnte fast meinen, es werde ihr im Laufe des sehr langen Musikvortrags langweilig - doch in ihren Augen blitzt die Gier nach Aufmerksamkeit. Und das Publikum giert nach der ihren.

Mit Geschmeide behängt, mit Glitzer bestäubt, mit Plakaten und Selbstgebasteltem wird die Lady bedrängt und verehrt - und sie gibt die Aufmerksamkeit ungeteilt zurück. Auch im Anschluss an das "Listening", beim "Meet and Greet": Wiederum ausgewählte Fans dürfen Fragen an die Künstlerin richten. Das gerät zu einer Endlos-Session, weil Gaga so ausführliche Antworten gibt. Offenbar ist es ihr ein Herzenswunsch, verstanden zu werden. Und ihren "kleinen Monstern", wie sie ihre Verehrer nennt, den Glauben an die Kunst, die Kreativität, die Musik und das Talent in sich sowie ein paar kluge Ratschläge mit auf den Weg zu geben.

Wie sie mit der Verantwortung umgehe, eine so einflussreiche Persönlichkeit zu sein, will ein Fan wissen. Macht sei nicht die Kategorie, in der sie denke, berichtigt Gaga. Es gehe ihr um die Leidenschaft zur Kunst und um die Fans. Wie man sie am besten beeindrucken könne? Sie müsse nicht beeindruckt werden, jeder Fan sei einzigartig, doziert sie. Man solle an sich glauben, an sich arbeiten und sich nicht von vermeintlichen Maßstäben der Normalität verrückt machen lassen, lautet ihr Credo. Auf diese Weise sei auch aus ihr, die noch vor wenigen Jahren als Kellnerin gearbeitet habe, Lady Gaga geworden. Die ehemalige Musikstudentin gibt Nachhilfe in Sachen Fame. Und eine rosafarbene junge Dame in der Front Row, die selbst Sängerin werden möchte, schluchzt der Moderatorin gerührt ins Mikrofon: "Sie hat gesagt, sie ist stolz auf mich!"

"Ich bin wirklich bisexuell"

Lady Gaga spendet also Trost. Keine überirdische Musik, auch diesmal nicht, nicht mal ein außerirdisches Kostüm. Und doch sind am Ende die meisten der rund 600 Gäste selig und high. Weil dieses Fabelwesen mit den weiß gefärbten Wimpern und den viel zu großen dunklen Augen ihren Anhängern Mut macht, dass Anderssein kein Fehler ist, sondern eine große Chance sein kann. Dadurch spricht sie über die Mainstream-Musik eine Masse von Menschen an, die sich, sozialpsychologisch gesehen, abseits des Mainstreams beheimatet fühlt.

"Ich finde es toll, dass sie das in die Masse trägt. Ich habe mich immer schon so gekleidet - und auf dem Dorf, aus dem ich komme, war das nicht einfach", erzählt Annika, Produktionsassistentin. Sie trägt Fleisch-Leggings, von denen sie versichert, sie habe sie schon bei Ebay ersteigert, bevor Lady Gaga ein Begriff war. Und in der Tat: Gaga ist nicht die Avantgardistin, für die sie viele halten. Sie steht nur an der Spitze einer Bewegung vieler bunter Vögel, die teilweise viel fortschrittlicher und mutiger auftreten als ihre berühmte Wortführerin. Darunter viele Homosexuelle, die ihr dankbar sind, dass sie das Anderssein predigt - und in die Herzen trägt. Auch an diesem Abend betont sie, dass das kein Marketing-Gag sei: "Ich bin wirklich bisexuell", sagt Gaga. Man glaubt es ihr.

Am Ende bringt die kleine Person in Unterwäsche, für die in Windeseile ein Flügel auf die Bühne gezaubert wurde, ihre neue Single "Gypsy" zum Besten. Fast schreiend und mit so viel Inbrunst wie ein Musicalstar singt sie von dem Gefühl, eine Zigeunerin zu sein, immer auf der Reise. Man mag von Lady Gaga halten, was man möchte. Aber eine Spürnase für den richtigen Trend zur passenden Zeit, den hat sie immer noch wie derzeit keine Zweite.

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