Kurzkritik:Zerbrechlich

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Jan Lisiecki mit den Warschauer Philharmonikern im Herkulessaal

Von Rita Argauer, München

Spätestens von der Mitte des zweiten Satzes an bekommt man Angst. Bitte verhaut es jetzt nicht, denkt man, lasst es jetzt nicht belanglos werden. Denn der junge kanadische Pianist Jan Lisiecki und die Warschauer Philharmoniker unter der Leitung von Jacek Kaspszyk spielen Beethovens viertes Klavierkonzert so außergewöhnlich, dass es ein Jammer wäre, wenn die zweite Hälfte das nicht mehr tragen könnte. Doch sie tut es. Auch den Finalsatz schaffen das Orchester und der Solist so spannungsreich, dass man vom letzten Akkord überrumpelt, ja überrascht ist.

Im Herkulessaal passierte ein besonderes Musikerlebnis. Denn die musikalische Kunst des ehemaligen Wunderkindes und mittlerweile 20-jährigen Pianisten geht weit über die für Wunderkinder typische Virtuosität hinaus. Jan Lisiecki weiß zu überwältigen, in dem er das Gegenteil einer Überwältigungsstrategie fährt. Er spielt in das Orchester hinein, kriecht im ersten Satz förmlich in die Streichersätze, die Jacek Kaspszyk sowieso schon mit papierdünner Zerbrechlichkeit gestaltet. Es ist schlicht wunderbar. Lisieckis Klaviereinsätze sind unauffällig, plötzlich ist da eine neue Klangfarbe, die nicht eitel als Solostimme glänzen will, sondern die Musik anfüllt und bereichert. Er lässt seine Stimme fern klingen, was die zum Teil zuckrigen Themen des Kopfsatzes mystisch werden lässt. Ebenso die Kadenz, die er schlicht und ruhig beginnt, dann mit hektischen Sprüngen durchbricht, seltsame Staccati in die Mittelstimme fährt und schließlich die Läufe nicht nur perlend, sondern auch zittrig, ja schwankend spielt. Im zweiten Satz dann kühle Strenge beim Orchester und ein Solist, der so vorsichtig spielt, als würde es ihm leidtun, die Akkuratesse des Orchesters durch seine Gefühle stören zu müssen. In seinem Spiel schwingen Fragen, Unsicherheit und dadurch auch Menschlichkeit mit - freilich als Interpretation, denn natürlich ist Lisiecki ungemein virtuos.

Das Orchester und Kaspszyk sind ihm gute Partner, die schon die "Fidelio"-Ouvertüre zu Beginn nach neuen Aspekten befragen und das Konzert mit Rachmaninows zweiter Symphonie beenden. Die ist zwar lang und strengt nach diesem die Gefühle sowie das Gehirn fordernden Beethoven bisweilen etwas an. Doch das Orchester schafft es auch hier, den Weg von Düsternis zur Hymne überraschend und einfühlsam zu nehmen.

© SZ vom 09.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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