Kurzkritik:Süffiges Musizieren

Das National Symphony Orchestra Washington in der Philharmonie

Von Barbara Doll

In der S-Bahn geht's noch. In der Philharmonie wird's schwierig, wenn man seine Brille vergessen hat. Ein Symphonieorchester sitzt da also, Cellist Daniel Müller-Schott trägt Fliege, und seine Schuhe glänzen ebenso makellos wie sein Cello - so viel ist zu erkennen. Die Gesichter der Musiker aber bleiben verschwommen. Macht nichts. Bei dem klanglichen Drive des National Symphony Orchestra Washington blickt man gewiss nur in fröhliche Mienen und nicht in versteinerte Gesichter. Es ist dann auch die Venusberg-Sehnsucht, die das Orchester in Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre weitaus plastischer auszumalen versteht als die fromme Demut. Eher beklommen als innig klingt der Beginn; dann lässt Christoph Eschenbach, Chefdirigent des Orchesters, die Streicher mächtig und dennoch kontrastreich aufdrehen. Hell und triumphal drängen sie vorwärts, mit erlesenem Streicher-Glanz. Das mag sich oft mehr nach Breitwand-Soundtrack anhören als nach mythischer Tiefenbohrung - doch Schmelz, Elan und Präzision sind grandios.

Daniel Müller-Schott platziert das Hauptthema in Antonín Dvořáks Cellokonzert mit einer traumhaften Mischung aus rauer Unmittelbarkeit und brennender Sehnsucht. Es braucht eine Weile, bis sich Solist und Orchester zu dynamischer Balance einpendeln. Aber dann wird es großartig: Der Cellist entzückt mit großem, virilem Ton und zugleich zarter Empfindung; das Orchester umgibt ihn mit einem dichten Geflecht aus nicht nachlassender Spannung. Müller-Schotts intuitives Phrasieren und Eschenbachs energetische Klangarbeit finden wunderbar zusammen. In keinem Moment wirkt der Cello-Schlager abgenutzt, und das liegt auch an der unbefangenen Spiellust und Anpassungsfähigkeit des Orchesters.

Leicht, flexibel, brillant: Was oft als Oberflächlichkeit amerikanischer Orchesterkultur getadelt wird, reizt Eschenbach aus und verwandelt es in süffiges Musizieren. Aus Beethovens Siebter macht er ein mitreißendes Erlebnis von Anfang bis Ende. Vitalität, Rhythmus, Rhetorik. Martialischer Duktus verbindet sich mit tänzerischer Euphorie. Der zweite Satz lebt vom Spannungsverhältnis aus rhythmischer Stringenz und gleißender Eleganz, das Finale ist wilder Freiheitstaumel. Dazu braucht man keine Brille.

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