Kurzkritik:Radikal modern

"Das neue Babylon" in der Flimmerkammer 3

Von Egbert Tholl

Zwei Monate lang herrschte die Utopie. Zwei Monate im Jahr 1871. Die französische Armee trudelte der Niederlage im Krieg gegen die deutschen Truppen entgegen, die Pariser hatten davon genug und beschlossen, ihre Stadt selbst zu verwalten. Sie bildeten einen Stadtrat, nahmen die Räterepubliken vorweg, gaben alle Macht dem Proletariat und emanzipierten ihre Frauen. Doch so schwach war die offizielle französische Armee noch nicht. Sie schoss die Pariser Kommune zusammen, und im Blut der Klassenkämpfer versank die Utopie.

1929 drehten Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg für die staatliche sowjetische Produktionsgesellschaft Sowkino den Film "Das neue Babylon" über die Pariser Kommune, Dmitri Schostakowitsch schrieb dafür die Musik, seine erste Filmmusik überhaupt. Der Stoff scheint prädestiniert für einen ordentlichen Propagandafilm, und doch wurde "Das neue Babylon" ein Fiasko, wovon auch Daniel Grossmann erzählt, der Leiter des Orchesters Jakobsplatz. Vor der Veröffentlichung empfahl die Zensurbehörde, den Film auf keinen Fall in Arbeiterklubs zu zeigen, er wurde bearbeitet und doch beschied man nach der Premiere den Filmemachern, sie hätten keine Ahnung von den Menschen und der Wirklichkeit. Außerdem sei der Dirigent besoffen gewesen.

Ein keineswegs abstruser Gedanke, denn hört man nun das Orchester Jakobsplatz unter Grossmanns Leitung im Schauspielhaus der Kammerspiele live spielen, klingen Revolutionslieder und die Musik der feiernden Bourgeoisie, also Walzer, Cancan, Operette, Cabaret, schräg, wüst, grotesk. Aber genau diese Überzeichnung hatten die Filmemacher ja im Sinn. Und so wirkt "Das neue Babylon" - der Name eines Konsumtempels - heute ungeheuer modern. Das liegt schon an der Hauptdarstellerin Jelena Kusmina, kein rolläugiges Weib wie die Damen des deutschen, expressionistischen Films, sondern klar, schlank und voller handfestem Tatendrang. Ihre Liebesgeschichte erzählt der Film reichlich holprig, aber er rast furios und unmissverständlich durch ein Gesellschaftsbild wie von George Grosz.

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