Kurzkritik:Mystik der Landschaften

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Paradisi Gloria widmet sich estnischen Komponisten

Von MICHAEL STALLKNECHT, München

Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel musikalisch Großartiges aus den vergleichsweise kleinen baltischen Staaten kommt. Das liegt wohl auch daran, dass Musik dort während der Sowjetzeit ein wichtiges Mittel der Identitätsversicherung war. Fast symbolisch wirkt es beispielsweise, dass in Estland mit Lepo Sumera ein Komponist während der "Singenden Revolution" Kulturminister war.

Das Münchner Rundfunkorchester stellte nun seine Sechste Symphonie in einem Konzert der Reihe Paradisi Gloria vor, das sich in der Herz-Jesu-Kirche ausschließlich Werken estnischer Komponisten widmete, verbunden durch vom Schauspieler Marcel Herrnsdorf gelesene estnische Gedichte. In seiner letzten Symphonie knüpft der bereits 2000 verstorbene Sumera mit der Verwendung von Zwölftontechnik wie mit wild zerklüfteten Klangfeldern durchaus an die westliche Moderne an. Doch daneben stehen viele leise Passagen mit klagenden Flötensoli, flirrenden Violinsoli oder zarten Glockenklängen, die epische Weite und mystische Tiefe zu beschwören scheinen. Noch deutlicher gewann man den Eindruck einer weiten Landschaft in den "Elegien von Thule" des 1969 geborenen Tõnu Kõrvits, der sich damit auf einen Gründungsmythos Estlands bezieht. Korvits suggeriert Natureindrücke wie den Einbruch einer Nacht, die die estnische Dirigentin Anu Tali in weite, organisch bewegte Bögen fasst.

Mathematisch geprägter wirkt da das Werk des bekanntesten estnischen Komponisten Arvo Pärt, der beispielsweise in "Festina lente" ("Eile mit Weile") einen Proportionskanon vorlegt. Hatte Anu Tali hierfür zu Beginn des Konzertes noch etwas die Ruhe gefehlt, so stellt sich spätestens bei Pärts "Summa" in der Streichorchesterfassung das für diesen Komponisten charakteristische Gefühl aufgehobener Zeit ein. Die Neigung zu kargen, klaren Linien verbindet ihn aber ebenso mit seinen beiden estnischen Kollegen wie auch ein schwer beschreibbares spirituelles Leuchten im Klangbild.

© SZ vom 16.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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