Kurzkritik:Introvertiert

Eine Matinee mit Ivo Pogorelich im Prinzregententheater

Von Klaus P. Richter

Eine Sentenz aus der Theorie des Poststrukturalismus besagte, dass der Text immer mehr weiß als sein Verfasser. Und der junge Ivo Pogorelich galt lange als ihr musikalischer Verkünder. Auch jetzt noch zerlegte er zum Auftakt seiner Matinee im Münchner Prinzregententheater Wolfgang Amadeus Mozarts c-Moll- Fantasie eigenwillig in ihre Episoden: von nachdenklich-reflektierend bis dramatisch-berührend. Aber es wirkt nicht mehr extravagant, sondern introvertiert.

Eher zurückhaltend auch die ersten beiden Sätze von Ludwig van Beethovens "Appassionata", wo Pogorelich im Andante die Affekte klein hält und die drei Variationen geflissentlich abschnurren lässt. Wie der späte Svjatoslaw Richter verlässt sich Pogorelich nicht mehr allein auf sein Gedächtnis, sondern auf die Noten vor ihm. Im Allegro-Presto, dem Finalsatz, entfesselt er allerdings dann den alten tobenden Klaviertitan mit bannender Ausdruckskraft bis in die Coda mit ihren wütenden drei f-Moll-Schlussakkorden - ein Höhepunkt des Konzerts. Bei Frédéric Chopins Ballade Nr. 3, As-Dur, bleibt davon dann vor allem die Lautstärke und in den drei Liszt-Etüden "d'exécution transcendentale" die Zuspitzung zu halsbrecherischer und sichtbar schweißtreibender Virtuosendemonstration. Aber trotzdem gelingt Pogorelich dort in den chromatischen Doppelgriffläufen von Nr. 5 die Vermählung des Geisterhaften mit dem Virtuosen, wie es die Titelbezeichnung "Irrlichter" auch will.

Zu überbieten war das nicht mehr. Aber klangmächtig schon: mit Maurice Ravels "La Valse" in der Version für Klavier solo. Diese eigene Bearbeitung Ravels verwandelt die süffige Dekonstruktion des Wiener Walzers aus der bekannten Orchesterfassung in eine viel längere, infernalische Parforcetour voller komplexer harmonischer Verfremdungen, theatralischer Gesten und wahnwitziger Glissandorausch-Ketten. Dass es danach, trotz des hartnäckigen Erzwingungsapplauses durch das Publikum, keine Zugabe mehr gab, war deshalb sinnvoll.

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