Kurzkritik:Friedensutopie

Die Philharmoniker spielen Beethovens Neunte

Von Barbara Doll

Beethovens Neunte zum Jahreswechsel - das ist ein ähnliches Konzertritual wie Bachs Weihnachtsoratorium zu Heiligabend. Dass die Tradition einer bürgerlichen Musikkultur entsprungen ist, scheint nahe zu liegen, täuscht allerdings: Wie das lehrreiche Programmheft erklärt, wurzelt die Aufführungstradition in der Arbeitermusik-Bewegung. So ließ das Leipziger Arbeiterbildungs-Institut für eine "Friedens- und Freiheitsfeier" in der Silvesternacht des Jahres 1918 Beethovens Neunte einstudieren und aufführen. Vom Erfolg der Novemberrevolution, vom lang ersehnten Frieden träumten damals die Zuhörer - ein Anspruch, der von den Silvester-Hoffnungen 2016 gar nicht so weit entfernt ist.

Die Münchner Philharmoniker spielen die Unesco-Weltkulturerbe-Symphonie Jahr für Jahr, ein wenig spürt man, dass mancher das Stück schon zu oft gespielt hat. Immerhin wechseln die Dirigenten. Dieses Jahr ist Constantin Trinks dran, Nachwuchsdirigenten-Hoffnung mit einem an Wagner geschulten Tempogespür. Er erfüllt den Kopfsatz mit heroischem Gestus und fordert mit zupackenden Bewegungen mehr Biss, den das Orchester allerdings erst nach und nach umsetzt. Fein durchhörbar, tänzerisch und luftig zieht das Scherzo vorüber, mit knackigen Akzenten, in heller Vorfreude auf den weltumspannenden Finalsatz.

Die Legatobögen des dritten Satzes lässt Trinks ruhig und innig fließen, ein Vorausblick auf das erste Auftreten des Themas der Ode: Celli und Bässe flüstern es in die Philharmonie hinein wie eine Offenbarung. Dann bricht der Gesang aus der Instrumentalmusik heraus, der Philharmonische Chor München meißelt die Worte hingebungsvoll heraus - und das Solisten-Quartett (Alexandra Lubchansky, Lioba Braun, Pavol Breslik, Daniel Schmutzhard) legt am Ende die ganze schmerzliche Utopie einer friedlicheren Welt in seinen Gesang.

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