Als exklusives erstes Werk für Herzog Albrecht V., an dessen Hof er ein Jahr zuvor gekommen war, hat Orlando di Lasso mit nur 28 Jahren in München die "Prophetiae Sibyllarum" vertont. Er durfte sie aber zu Lebzeiten des Herrschers nicht veröffentlichen; erst 1600 erschienen sie im Druck. Nicht nur deshalb ist dieser Zyklus in der Musikgeschichte ein Solitär geblieben, denn seine Texte wurden vorher und nachher nie vertont, und ihre Chromatik hat für unsere Ohren immer noch etwas Außergewöhnliches, ja Fremdes.
Singt man die zwölf teils sehr kurzen Weissagungen der in göttlicher Ekstase versunkenen alten Frauen, die die Ankunft Jesu prophezeien, unmittelbar hintereinander, dann ist die Gefahr groß, beim Hören die Orientierung zu verlieren; auch der klangliche Effekt der vielfachen, meist sehr kühnen Halbton-Rückungen im vierstimmigen Satz nutzt sich ab. Die Mitglieder des Münchner Ensemble Phoenix - Michaela Riener, Sabine Lutzenberger, Bernd Oliver Fröhlich, Timothy Leigh Evans und Joel Frederiksen - boten im Mars-Venus-Saal des Bayerischen Nationalmuseums zudem den Notentext quasi pur, mit nur äußerst zarten Schattierungen in Tempo oder Lautstärke.
Ganz anders war der Eindruck bei ausgelassenen Madrigalen auf Deutsch und Italienisch sowie drei Weihnachts-Motetten Lassos. Das berühmte, ebenso schöne wie vielgestaltige "Resonet in laudibus" bildete den Abschluss, bevor "Es ist ein Ros' entsprungen" endgültig die perfekte Zugabe zum zweiten Advent war. Lassos Magnificat auf die Melodie von "Ancor che col partire" von Cipriano de Rore im ersten wurde die zeitgenössische Vertonung des 104. Psalms ("Lobe den Herrn!") von Wolfram Buchenberg im zweiten Teil des Konzerts gegenübergestellt - eine reizvolle, zudem in jeder Hinsicht perfekt gesungene Kombination. Die Reihe mit Musik aus München - vor Orlando di Lasso stand schon Ludwig Senfl im Mittelpunkt - wird am 19.Februar mit Werken der Familie Galilei fortgesetzt.