Vielleicht wollte der Doyen aller Maestri das avantgardistische Feuer seiner musikalischen Jugend beschwören. Jedenfalls griff Herbert Blomstedt nach einem "Tristan"-Vorspiel-Rausch in der Gasteig-Philharmonie zum Mikrofon. Launig erklärte er "Poesis" von Ingvar Lidholm. Vielleicht war es auch eine Hommage an den schwedischen Landsmann, der das 1963 zum 50-jährigen Bestehen der Stockholmer Philharmoniker komponierte Stück ihm, Blomstedt, dem Uraufführungsdirigenten, gewidmet hatte. Das war die Blütezeit der Experimentallabors von Darmstadt und der Theoretiker der Negativen Ästhetik.
"Erwarten Sie keine Melodie, keine Harmonie, keinen Rhythmus", warnte der greise Maestro und warb für die neuen Klangaggregate als Option, der entropischen Erschöpfung des abendländischen Musikidioms doch noch zu entkommen. Es begann mit dezentem Reiben von Sandpapier. Dann zirpte und fiepte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks - aber mit Stil. Dazu gab es Ingenieurleistungen am Flügel (Lukas Maria Kuen), eine solistische Jaul-Etüde als Kadenz am Kontrabass, ein paar Blechbläserexplosionen und allerhand aktionistische Improvisation.
Trotzdem zog einen das Stück mit expressionistischem Flair und interessanten Klangspektren in Bann. Dann aber demonstrierte uns Beethoven, dass seine fünfte Sinfonie keineswegs verbrauchte Klangware ist. Blomstedt entfesselte sie mit Fortekraft wie in ihren unerwarteten Wendungen, steuerte die Wechselrede der Bläser- und Streicherchöre im ersten Satz mit kammermusikalischer Delikatesse, aber vertiefte sich auch in die Variationen des Andante mit fein ausgekosteten Pianissimi und in die düsteren Schemenreigen des Themas im Scherzo. Schließlich aber siegte der C-Dur-Glanz im Finalsatz: nicht nur Triumph eines Ethos als Macht des Humanen, sondern auch Zeugnis abendländischen Musikgenies - und der musikalischen Potenz der BR-Symphoniker.