Kurzkritik:Derb und wahr

"Ostwind" aus Stuttgart zu Gast an den Kammerspielen

Von Sabine Leucht

Sie kommen aus dem (Süd-)Osten in unser viel gelobtes Land, in dem - sagt man anderswo - sogar die Erde anders riecht. Und der Wind, der weht ihnen rau ins Gesicht: der jungen Bulgarin, die als "Zigeunerin" beschimpft wird und sich in die Prostitution hineinquatschen lässt, wo sie sich den Arbeitsrausch und ein paar eklige Geschlechtskrankheiten holt. Der Putzfrau mit dem Jurastudium im Rücken oder dem jungen Mann, der aus einer Gegend "ohne Nacktheit" kommt, unvorbereitet über eine Bravo stolpert und sofort weiß: "Ich will Titten!"

Emre Akals "Ostwind" entwirft ein lebendiges Panoptikum aus Zuwandererbiografien innerhalb der erweiterten EU, die angesichts der Flüchtlinge, die aus Syrien kommen, ein wenig in Vergessenheit geraten sind. Es sind vor allem Geschichten von neuen Abhängigkeiten und falschen Hoffnungen, aber auch von Kindern, denen die Ratten in der alten Heimat die Ohren abknabberten, von Frauen, die sich zu fünft eine Pritsche teilten und für ihre Cousins Pullis strickten, damit sie in ihren Betten nicht frieren, und von Überassimilierten, die längst deutsche Sorgen haben und sich anschicken, die "empörten Bürger" von morgen zu sein.

In der Uraufführung des Theaterkollektivs Transit@Stuttgart übernahmen das gesamte Figurenarsenal nur zwei Schauspieler: Berivan Kaya und Andrim Emini entwickelten es - in der Regie von Wilfried Alt - auf einer vor Straßenleben-Videohintergrund situierten Baustellenbühne. Aus zwei Müllsäcken verkleideten sie sich immer wieder neu. Im unübersichtlichen Gastspiel-Dschungel der neuen Kammerspiele war die preisgekrönte Produktion nun auch in München zu sehen. Dabei übernahm Ismail Deniz alle Männerrollen. Und der ist eine Wucht. Ganz egal, ob er lakonische Einwürfe macht zu den zuweilen ins Kabarettistische schwappenden Darbietungen Kayas, den Bauzaun rammelt oder effeminiert seine kleine Plauze unter dem Schlauchkleid wölbt: Er spielt sehr lässig verlorene und sich doch nicht verloren gebende Typen, die ihre Häute wie T-Shirts wechseln, nachdem zu viele sich ihrer bedient haben. Sie - aber auch Kayas Frauen, die sich mechanisch an Polestangen reiben oder den Scheißhausgeruch mit Waschpulver von den Händen schrubben - hat Emre Akal klug aus etlichen Gesprächen mit Transit-Deutschen destilliert. Deren theatrale Wiedergänger Kaya und Deniz zeigen sich nun nicht als Opfer, sondern als Anpassungskünstler, Selbstbildpfleger und Glücksjäger. Die belügen sich zwar selbst (und sie wissen das), glauben aber dennoch an die Zukunft. Das ist pralles Theater: Lustig, aber niemals lächerlich; derb, poetisch und wahr.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: